Jahrmarkt der Unsterblichkeit
sein.
Es war der 9. Mai. Am vierzehnten sollte ein Schiff aus Haifa auslaufen. Die Abreise aus Metulla war für den folgenden Tag festgelegt worden.
Auf dem Rückweg kamen sie wieder an dem Hain des deutschen Hospizes und an der kleinen Kirche der Brotlaibe und Fische Ain Tabigha am Galiläischen Meer vorbei.
Vielleicht waren es die inständigen Bitten Ben-Isaaks, vielleicht aber auch der plötzliche Anblick des schönen Sees, den man durch die Eichen, Weiden, Fichten und Platanen sah, und dessen Wasserfläche und Ufer so eng mit Christi Amt verknüpft waren, die Hannah plötzlich veranlaßten, die Heimreise zu unterbrechen. Sie griff zum Sprachrohr im Wagen und befahl dem Chauffeur zu halten.
Schweigend blickte sie auf die Szene hinaus, die in jedem Reisenden, wie oft er auch schon hier gewesen sein mag, ein Brennen in der Kehle hervorruft. Für Hannah waren die Gedankenverbindungen sogar noch intensiver. In der Nähe dieses Ufers hatte die schönste Stimme, die je auf Erden erklungen war, die Worte gesprochen, die schließlich auch ihre Seele erreicht hatten: «Wer an mich glaubt, der hat das ewige Leben...»
Sears, der mit den Vorbereitungen für die Rückreise beauftragt worden war, kam herbei und fragte: «Ist etwas geschehen?»
Hannah wurde sich seiner Anwesenheit auf der Straße neben dem Wagen bewußt und erwiderte: «Nein. Ich kann es nur nicht ertragen abzureisen.»
Sears dachte an die Verladeprobleme und an Hannahs Ruf, nur tüchtige Mitarbeiter zu dulden. Er sagte: «Ich fürchte, wir müssen weiterfahren, Miss Bascombe, wenn Sie das Schiff noch erreichen wollen. Wir schaffen es nur noch mit knapper Not.»
Die alte Frau beugte sich aus dem Wagenfenster.
«Lassen Sie mich nur noch einen Tag hierbleiben», sagte sie. Zum erstenmal, seit sie sich kannten, spürte Sears ein Gefühl wie Zärtlichkeit für sie.
Er sagte: «Selbstverständlich», und ging zurück, um die entsprechenden Anordnungen zu geben.
Ben-Isaak stieß einen Triumphschrei aus und zitierte ein altes Sprichwort: «Bleibt man einen Tag in Israel, bleibt man immer da.» Er neigte sich ins Wagenfenster und küßte sie auf die Wange.
Hannah sank in ihrem Sitz zurück, als ob die Anstrengung ihr zuviel geworden wäre; doch sie sagte: «Wenn ich es könnte, würde ich tatsächlich immer hierbleiben.»
Mit Erlaubnis von Pater Hofstätter schlugen sie am Rand des Sees wieder ihr Lager auf. Und danach folgte ein gestohlener Tag dem andern.
Es schien, als könne sich Hannah nicht dazu aufraffen, diesen Ort zu verlassen, wo die Winde der Zeit vom Berg Hermon zum Galiläischen Meer wehten und den Widerhall längst vergangener Jahrhunderte erweckten.
Hier in Israel, zwischen der Welt der Alten, die Gott suchten, und den triumphierenden, unbesiegbaren Jungen, die um ihre Unabhängigkeit kämpften, hatte Hannah abermals die Luft der Freiheit geatmet und die Befreiung des Geistes aus den dunklen Kammern erlebt, in denen er so lange gefangen gewesen war.
Doch nach einiger Zeit zeigte sich außerdem, wie erschöpft und müde sie war, so daß die Weiterfahrt fast über ihre Kräfte ging. Deshalb wurde nichts mehr von dem Schiff gesagt.
Sie lag in einem Liegestuhl am See, eine leichte Decke über die Beine gebreitet, oder sie blieb im Bett ihres Wohnwagens, von dessen Fenster aus sie den See und die Jordanklippen gegenüber sehen konnte. Ben-Isaak las ihr vor, oder sie sprach leise und endlos lange mit Dr. Levi. Wenn zu Haus die Räder ihres riesigen Finanzreiches langsamer mahlten und stehenzubleiben drohten — sie schien es nicht zu kümmern.
Offensichtlich hatte sie sich sehr verändert; Sears empfand das am stärksten.
Manches an ihrem Aussehen verwirrte ihn — nicht nur das Nachlassen der leidenschaftlichen und herausfordernden Vitalität, die sie stets beseelt hatte. Es war, als ob ein Porträt, mit dem man seit langem vertraut ist, sich plötzlich auf der Leinwand bewegt und eine andere Stellung einnimmt.
Als sie da in einem Sessel am Seeufer hockte, sah er erst, wie winzig sie wirklich war und wie sie durch ihre Haltung, das gebieterische Wesen und ihr inneres Feuer die Illusion von Größe und Macht hervorgerufen hatte. In ihrer Entspannung schien sie zusammengeschrumpft zu sein; die zarten Handgelenke wirkten noch feiner und vogelähnlicher, die blaugeäderten Schläfen durchsichtiger und wachsähnlicher, das Gesicht unter dem aufgetürmten Haar kleiner und schmaler.
Doch eines Tages sah er ganz klar, als ob sich ein Schleier
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