Jahrmarkt der Unsterblichkeit
weiblichen Ausdruck in Clarys Gesicht war nichts mehr geblieben. Nachdem sie Sears mit einem Blick voller Scham und Haß fixiert hatte, sprach sie als erste.
«Oh!» rief sie mit einer Bitterkeit und einem Abscheu, die in ihrer Intensität selbst für sie bemerkenswert waren. «Warum mußten Sie es sein!» Dann drehte sie sich um und floh den Gang hinunter; sie lief rasch und verzweifelt, bis sie um eine Ecke verschwand.
Ben-Isaak sagte heiser: «Was machst du hier? Spionierst du mir nach? Ich warne dich, Joe: Komm mir nicht in den Weg!»
Sears erwiderte: «Es tut mir leid, Ben-Isaak. Es war Pech, daß ich zufällig vorüberkam.»
Der Junge war verletzt und wütend: «Du hast dir eine sehr unpassende Zeit dazu ausgesucht.»
Sears entgegnete kühl: «Vor einem Augenblick warst du ein ganzer Mann. Nun werde nicht zum Kind. Es ist dein Leben und dein Spaß, mein Junge. Tu, was dir richtig erscheint. Aber vergiß dabei nicht, daß mehr auf dem Spiel steht als ein Mädchen. Sich bei so einer Sache mit einer Frau einzulassen, kann alles verderben. Wir sind in diesem Haus ohnehin schon in einer schwierigen Lage. Überleg dir das mal. Gute Nacht.»
Als Sears wieder in seinem Zimmer war, trat er ans Fenster, setzte sich, starrte hinaus auf die Lichter der Bucht und versuchte, sich über seine Lage klarzuwerden.
Es ließ sich nicht bezweifeln, daß es höchste Zeit wurde, abzureisen. Hannah Bascombe war schwierig genug, doch Clary schien für seinen Plan noch weit gefährlicher zu sein. Sie fürchtete ihn, weil er sie mit seinem Einfluß auf Hannah bedrohte; sie haßte ihn, weil er sie bei der ersten Begegnung besiegt hatte. Er war überzeugt, daß sie bei einer Privatdetektei Auskunft über ihn eingeholt hatte und jetzt nur auf eine günstige Gelegenheit wartete, um seine Personalakte Hannah vorzulegen. Ein Bündnis zwischen Clary und Ben-Isaak konnte diese Gelegenheit bringen.
Das war abermals eine jener Unwägbarkeiten, mit denen man sich abfinden mußte, wenn man sich auf einen solchen Schwindel einließ — genau wie das Verhältnis, das sich zwischen Hannah und Ben-Isaak entwickelt hatte. Alles, was der kinderlosen, liebelosen Frau, die ihr Leben erst in der Bindung an den Vater, dann in der an sein Geld verbracht hatte, versagt geblieben war — Jugend, Poesie, Phantasie, die Zuneigung eines Sohnes — wurde ihr jetzt durch Ben-Isaaks Kommen geschenkt.
Sears hatte die Vertiefung dieses Verhältnisses beobachtet und zugelassen, da sie zu seinen Absichten paßte, denn Ben-Isaak war in seinem Plan sowohl der Köder als auch der Katalysator. Alles hatte seinen Mittelpunkt in Hannahs Überzeugung, daß die alterswehrenden Gene einer patriarchalischen Rasse in seinem Blutstrom kreisten, und daß er sie zu ihrer Quelle führen konnte. Für Ben-Isaak hatte sich das Spiel verändert. Er hatte die ursprüngliche Stimmung und die Umstände längst vergessen, durch die er veranlaßt worden war, sich zu dem Betrug an einem raubgierigen alten Geldsack herzugeben, einer Frau, die die paar ihr abgenommenen Dollar gar nicht spüren würde. Er war nicht mehr staatenlos und nicht mehr in unmittelbarer Gefahr. Er hatte seine Papiere sicher in der Tasche. Sears hatte recht gehabt. Sein Streben war von Hannah erfüllt worden, und er hatte seine Freiheit erhalten. Doch es war noch etwas geschehen. In Hannah hatte er eine Mutter gefunden.
Die ganze Liebe seines Jünglingsherzens, die seit so langer Zeit kein Ventil gefunden hatte, ergoß sich nun über diese grimmige Matriarchin, die ihn so sehr an die tüchtigen Frauen seines eigenen Volkes erinnerte; während der ganzen Zeit hatte er nur daran gedacht, sie glücklich zu machen. Und nur deshalb hielt er sie im Nebel.
Zum Ausgleich dafür bemühte er sich, die Poesie der Heiligen Schrift für sie zum Leben zu erwecken; zwar benutzte er dazu die Kapitel und Verse des Alten Testaments und des Talmuds; doch er belebte sie mit seinem inneren Feuer und bemerkte gar nicht, daß er Hannah mit jedem Wort mehr umgarnte und sie fester in ihrem Glauben an jene Unsterblichkeit bestärkte, die Sears ihr versprochen hatte.
Für Ben-Isaak war es nur ein winziger Schritt, statt «In alter Zeit lebte mein Volk auf den Hügeln Naphtali» zu sagen: «Wir gehören zu jenem uralten Stamm Naphtali, der mit Dan und Ascher zog, hundertsiebenundfünfzigtausend Mann stark.»
Oder er verlor sich, wie er es als Kind getan hatte, wenn er den Geschichten seines Vaters oder Onkels zuhörte, in das Lied von
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