Jakob der Luegner
auf den Namen Abraham getauft haben, sind nicht mehr zu Hause. Nur Kowalski ist zu Hause, und zwei Wildfremde im Zimmer, die ihn als erste der Vorübergehenden hängen sahen. Sie haben ihn abgeschnitten und auf das Bett gelegt, jetzt stehen sie hilflos herum und wissen nicht, was weiter zu tun wäre. Einer von ihnen fragt Jakob: »Haben Sie ihn gekannt?«
»Was?« fragt Jakob vor dem Bett.
»Ob Sie ihn gekannt haben?«
»Ja«, sagt Jakob.
Als er sich nach einer Weile umdreht, ist er alleine, die Tür haben sie zugemacht. Jakob geht zum Fenster und sieht auf die Straße, nichts mehr von Menschenansammlung, nur noch Passanten. Er will das Fenster schließen, aber es klemmt, er muß vorher die doppelt verknotete Schnur vom Rahmen lösen. Dann zieht er den Vorhang zu, das wenige Licht macht ihm Kowalskis Gesicht erträglicher. Er rückt einen Stuhl heran, auf das Bett möchte er sich nicht setzen, er nimmt Platz für ungewisse Zeit.
Ich sage ungewiß, denn über die Länge seines Aufenthalts kann er später keine Angaben machen.
Der Anblick von Toten ist Jakob alles andere als ungewohnt, nicht selten muß man über irgendeinen die Füße heben, der verhungert auf dem Gehsteig liegt und vom Räumkommando noch nicht ausgemacht wurde. Aber Kowalski ist nicht irgendeiner, gütiger Gott, das ist er nicht, Kowalski ist Kowalski.
Ein Geständnis hatte seinen Tod zur Folge, dazu noch eins, das er vorgab, nicht zu glauben, warum bist du Wahnsinniger nicht gestern abend geblieben? Wir hätten alles in Ruhe beredet und uns schon das bißchen Mut zum Weiterleben verschafft. Was haben wir uns nicht schon alles verschafft, reell oder unreell, wenn es gelingt, fragt keiner hinterher nach Art und Weise, warum mußtest du an deinem letzten Abend den Pokerspieler spielen? Wir hätten uns gegenseitig helfen können, aber nur du hast gewußt, wie es in uns beiden aussah, du hast dich vor deinem Freund Jakob Heym verborgen, du hast mir das falsche Gesicht gezeigt, und dabei hätten wir weiterleben können, Kowalski, an uns sollte es nicht liegen.
Von Beruf Friseur, hatte etwas Geld versteckt, wie man weiß, mit der Absicht, sich später zu verändern, wäre aber vermutlich weiterhin Friseur geblieben, war ausstaffiert mit dieser und jener fragwürdigen Eigenschaft, war mißtrauisch, verschroben, ungeschickt, geschwätzig, obergescheit, wenn man alles zusammenrechnet, im nachhinein, plötzlich liebenswert, hat Jakob einmal aus einer schrecklichen Lage befreit, aus einem deutschen Klosett, legte sich aus Werbegründen den »Völkischen Landboten« zu, konnte zeitweilig sieben große Kartoffelpuffer hintereinander essen, vertrug aber kein Eis, borgte lieber als er zurückgab, wollte berechnend wirken, war es aber so gar nicht, bis auf einmal.
Wie nicht anders zu erwarten, in Jakobs Kopf überstürzen sich die Selbstvorwürfe, er hätte Kowalski auf dem Gewissen, er mit seiner kleinlichen Müdigkeit wäre schuld daran, daß Kowalski zum Strick griff, was man einmal anfängt, muß man auch durchhalten, man muß seine Kräfte vorher einschätzen. Ich habe Jakob unterbrochen, ich habe ihm an dieser Stelle gesagt:
»Du redest Unsinn. Du hast deine Kräfte nicht überschätzt, denn du konntest nicht wissen, daß es so lange dauert.« Und ich habe ihm gesagt: »Nicht du bist schuld an Kowalskis Tod, sondern er hatte es dir zu verdanken, daß er bis zu diesem Tag gelebt hat.« – »Ja, ja«, hat mir Jakob geantwortet, »aber das hilft alles nichts.«
Schließlich steht Jakob auf. Er zieht den Vorhang wieder zur Seite, läßt auch, als er geht, die Tür weit offen, damit einer der Nachbarn, wenn er von der Arbeit kommt, den Vorfall bemerkt und das Nötige in die Wege leitet. Für den Bahnhof ist es längst zu spät, man kann dem Posten am Tor schlecht sagen, man wäre unterwegs aufgehalten worden, das Mittagessen fällt unabänderlich aus. Jakob geht nach Hause, mit der einzigen Hoffnung, daß Kowalski seine Gründe für sich behalten hat, daß er ausnahmsweise einmal verschwiegen gewesen ist. Denn Jakob hat wieder sein Radio gefunden.
Jakob kann tausendmal wiederfinden, berichten, Schlachten ersinnen und in Umlauf setzen, eins kann er nicht verhindern, zuverlässig nähert sich die Geschichte ihrem nichtswürdigen Ende. Das heißt, sie hat zwei Enden, im Grunde natürlich nur eins, das von Jakob und uns allen erlebte, aber für mich hat sie noch ein anderes. Bei aller Bescheidenheit, ich weiß ein Ende, bei dem man blaß werden könnte
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