Jakob der Luegner
Wert darauf, daß seine Verurteilung glimpflich ausfällt, dazu muß man seine Gründe für das Unternehmen kennen und auch die Gründe für den plötzlichen Abbruch. Aber über die ist er sich selbst noch nicht im klaren, deswegen, und weil er begreift, daß es bei all dem nicht nur um ihn geht, auch um Kowalski, schweigt er und hebt sich die Bitte um mildernde Umstände für einen späteren Zeitpunkt auf.
Dann folgt die ernüchternde Überlegung, daß es überhaupt nicht um ihn geht, kein Mensch im Ghetto ist unwichtiger als er, ohne Radio. Von Bedeutung sind nur seine Abnehmer, Kowalski neben vielen anderen. Und die pfeifen auf noch so plausibel klingende Rechtfertigungen, die haben andere Sorgen, und nicht eben kleine, die wollen zum Beispiel wissen, wie es nach Pry nun weitergeht.
Kowalski beendet Geklopfe und Gegrübel, er steht auf, legt Jakob die freundschaftliche Hand auf die Schulter. Er sagt:
»Keine Angst, Alter, vor mir bist du sicher. Ich werde dich nicht mehr fragen.«
Er geht zur Tür, das Lächeln von neuem belebend, bevor er sie öffnet, dreht er sich noch einmal um, zwinkert tatsächlich, mit beiden Augen.
»Und ich bin dir nicht böse.«
Und geht.
Am nächsten Morgen, nach der schlaflosesten Nacht seit langem, ist Jakob auf dem Weg zur Arbeit. Er hat, ehe er auf die Straße trat, Kirschbaums Türklinke verstohlen niedergedrückt, warum auch immer, doch die Tür war verschlossen. Der Nachbar Horowitz hat ihn am nichtssagenden Schlüsselloch ertappt und gefragt: »Suchen Sie was Bestimmtes?«
Natürlich suchte Jakob nichts Bestimmtes, nur so, menschliche Neugier, er hat sich Horowitz flüchtig erklärt und ist gegangen. Dann war da der bunte Fleck vor dem Haus, auf der Fahrbahn, wo gestern der kleine deutsche Lastwagen gestanden hatte. Ein paar Tropfen Öl waren ihm entfallen und prangten nun als dünne Fäden in allen möglichen Farben auf dem versickernden Rest eines Stausees, den Siegfried und Rafael gemeinsam dort errichtet hatten, zuerst durch die Hosenbeine, dann, als ihre Quellen versiegt waren, mit Hilfe eines Wassereimers. Unmittelbar nach Elisa Kirschbaums Abfahrt hatten sie sich an die Arbeit gemacht, denn solche Gelegenheit findet sich nicht alle Tage, bei dem Autoverkehr. Jakob stand noch mit der über die Ferkelei entrüsteten Lina hinter dem Fenster und beobachtete sie dabei.
Aber zurück auf den Weg, schon von weitem sieht Jakob eine größere Menschenansammlung, an einer Straßenecke, genau vor dem Haus, in dem Kowalski wohnt. Jakobs erster Gedanke, er vermutet Kowalski mitten in dem Haufen, der beste Freund ist bestimmt auf die Straße gekommen und hat, wie es ihm angeboren ist, den Mund nicht halten können. Entweder ist er beim nächtlichen Klären doch noch zu der Überzeugung gelangt, daß man ihm die Wahrheit gesagt hat, oder, was bei Kowalski wahrscheinlicher ist, er glaubt weiterhin nicht, tut aber so nach außen hin, denn wahre Freundschaft heißt zusammenhalten. Ist aus dem Haus getreten und hat im Handumdrehen die Juden mit der Hiobsbotschaft zu Tode erschreckt, weil er unbedingt der Erste sein muß, ob in die Hölle oder ins Paradies, Kowalski immer vorneweg. Hat einem damit alle Rückzugswege abgeschnitten, die man nach langem Erwägen zwar nicht beschreiten wollte, aber was geht das Kowalski an? Jakob bekommt Lust zurückzugehen, erzählt er, und einen kleinen Umweg zu machen, es wird auch so schon schwer genug, auf dem Bahnhof werden sie ihn noch genug foltern.
Das hier soll Kowalski alleine durchstehen, das ist eine Sache, das ist eine günstige Gelegenheit, sich nicht einzumischen. Da fällt Jakob, noch in einiger Entfernung von der Gruppe, auf, daß die Leute kaum reden, dabei müßten sie aufgeregt sein nach der vermuteten Nachricht, die meisten stehen stumm und betroffen, wie sich beim Näherkommen erweist, einige schauen nach oben. Zu einem geöffneten Fenster, an dem auf den ersten Blick nichts Absonderliches ist, einfach leer und offen. Jakob weiß nicht genau, ob es sich um Kowalskis Fenster handelt oder um eins daneben.
Auf den zweiten Blick sieht er doch das Besondere, ein kurzes Stück Schnur, am Fensterkreuz und gerade fingerlang, darum so spät bemerkt.
Jakob stürzt durch den Auflauf in das Haus, er versucht zwei Stufen auf einmal, aber nur die beiden ersten gelingen ihm so, zum Glück wohnt Kowalski in der ersten Etage. Die Tür steht offen wie das Fenster, es zieht also, die drei Zimmernachbarn Kowalskis, von denen wir einen willkürlich
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