Jakob der Luegner
hingeschoben, daß man sich selber was nehmen konnte, von Zeit zu Zeit den Aschenbecher ausgeschüttet und das Zimmer gelüftet, das Bett am Morgen glattgestrichen, ansonsten gesagt: »Und wenn Ihr noch etwas braucht, Reb Heym, dann ruft mich, ich lasse mein Fenster offen.« Ein paarmal hat Jakob es versucht, aber entweder hatte sie ihr Fenster doch geschlossen, oder sie war schwerhörig wie ein altes Maultier.
Und jeden zweiten oder dritten Abend ist Kowalski vorbeigekommen, mit einem kleinen Fläschchen, hat einen bedauert, wie man mit dem geschienten Bein vor ihm lag und sich nicht rühren konnte. Hat dagesessen, bis die Flasche leer war, große Unterhalter sind sie beide nicht gewesen, Jakob hat Gott gedankt, daß der Bruch ohne Komplikationen verheilt ist.
Ein paar Tage mehr und die Langeweile hätte ihn noch getötet.
Und kurze Zeit darauf hat er das unschuldige Schildchen in den Ofen gesteckt, hat seine grimmige Freude daran gehabt, wie es in den Flammen spurlos vergangen ist, die Drohung hat so nachhaltig gewirkt, daß er bis auf den Tag von jeder Bettlägerigkeit verschont blieb.
»Soll ich nicht doch lieber gehen?« fragt Kowalski dazwischen, am Ende seiner Geduld.
»Bleib«, sagt Jakob.
Kowalski sieht ihn fragend an, es kommt ihm vor, als hätte Jakob die Absicht, ihm etwas mitzuteilen, und kaum etwas Gutes, wenn man die verflossenen Minuten mit der schleppenden Einleitung bedenkt. Dabei war ein völlig harmloser Besuch geplant, denn unterwegs hatte er beschlossen, sich gar nicht erst wegen Pry zu vergewissern, da war jeder Irrtum ausgeschlossen, dieser Abraham mußte einem Wichtigtuer ins Garn gegangen sein. Er wollte ganz einfach vorbeikommen und guten Abend sagen und ein bißchen von früher und von später reden, mit wem sonst, wenn nicht mit dem einzigen alten Freund, kommt er nicht zu dir, kommst du eben zu ihm.
»Was meinst du, Kowalski, wieviel ein Mensch aushalten kann?« fragte Jakob endlich.
Also philosophieren will er, muß Kowalski denken, er wartet auf Erläuterung der Frage, auf Präzisierung nach irgendeiner Richtung hin, aber Jakob scheint sie ganz allgemein gestellt zu haben. Er sagt: »Na, was meinst du?«
»Wenn du mich so fragst«, sagt Kowalski, »viel. Blödsinnig viel.«
»Aber es gibt Grenzen.«
»Sicher …«
»Es tut mir leid«, sagt Jakob, »bei mir ist die Grenze jetzt erreicht. Vielleicht wäre ein anderer weitergekommen, ich kann nicht mehr.«
»Was kannst du nicht mehr?«
»Ich kann nicht mehr«, sagt Jakob.
Kowalski läßt ihm Zeit, er weiß nicht, daß Jakob die bedingungslose Kapitulation vorbereitet, das schlimmste aller Eingeständnisse. Er sieht nur sein knochiges Gesicht, auf die Hände gestützt, vielleicht etwas bleicher als sonst, womöglich etwas müder, aber doch das Gesicht desselben Jakob, den man kennt wie keinen zweiten. Beunruhigt ist er, weil solche Anfälle von Trübsinnigkeit bei Jakob vollkommen ungewohnt sind, mürrisch und zänkisch ist er von Zeit zu Zeit, aber das ist ein Unterschied. Wehklagend kennt man ihn nicht, wehklagen alle anderen, Jakob war so etwas Ähnliches wie ein Seelentröster.
Man ist, ob bewußt oder unbewußt, nicht selten zu ihm gegangen, um sich die eigenen Schwachheiten austreiben zu lassen. Schon vor der Radiozeit, eigentlich sogar schon vor der Ghettozeit. Wenn ein besonders beschissener Tag vorüber war, wenn man von früh bis spät hinter der Schaufensterscheibe gestanden hat und vergeblich Ausschau nach Kunden gehalten, oder irgendeine Riesenrechnung ist gekommen, und es wollte einem im Traum nicht einfallen, aus welcher Tasche man sie bezahlen sollte, wohin ist man dann am Abend gegangen? In seine Diele, aber nicht, weil bei ihm der Schnaps besonders gut geschmeckt hätte. Es war derselbe wie überall, dazu noch verboten, da ohne Lizenz ausgeschenkt. Man ist hingegangen, weil die Welt nach solchem Besuch ein kleines bißchen rosiger ausgesehen hat, weil er eine Kleinigkeit überzeugender als andere »Kopf hoch« sagen konnte oder »es wird schon wieder werden« oder etwas in der Art. Vielleicht auch deswegen, weil er der einzige im dünn gesäten Bekanntenkreis war, der sich überhaupt die Mühe gegeben hat, einem so etwas zu sagen.
Kowalski läßt ihm Zeit.
Da fängt Jakob zu reden an, dem Schein nach zu Kowalski, denn kein anderer ist im Zimmer, den Worten nach zu einem größeren Auditorium, also einfach vor sich hin in die Luft, mit Wehmut in der leisen Stimme und mit dieser nie gehörten Resignation,
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