Jakob der Luegner
die Lager?«
So ist das leider, Schmidt kennt sich nicht aus im Spiel der Andeutungen, wie gewisse Dinge nicht erwähnt werden und doch gesagt sind, er wird sich nie auskennen, im Herzen ist er ein für allemal ein Fremder. Ihm muß alles plump und deutlich ausgesprochen sein.
»Nein, sie schicken niemand mehr! Der Krieg ist längst aus, wir könnten alle nach Hause gehen, wenn wir wollten, wir wollen aber nicht, weil es uns hier soviel Freude macht!« sagt Jakob mit verdrehten Augen. »Ob sie jetzt noch welche schicken! Denken Sie, es sind keine mehr da? Ich bin noch da, Sie sind noch da, wir alle hier sind noch da. Bildet euch doch bloß nicht ein, es ist schon so gut wie vorbei!«
Schmidt unterbricht die notwendig gewordene Lektion mit einer schnellen Handbewegung, er weist erschrocken nach draußen und ruft: »Sehen Sie doch! Schtamm!«
Herschel war nie groß aufgefallen, bis auf die Beterei damals, die nach seiner Überzeugung zur Stromsperre geführt hat, jetzt holt er das nach, er steht auf dem Abstellgleis bei dem Waggon.
Noch haben ihn die Posten nicht bemerkt, Herschel drückt sein Ohr an die Wagenwand und redet, ich sehe deutlich, wie er die Lippen bewegt, wie er horcht, dann wieder spricht, der fromme Herschel. Sein Bruder Roman steht zufällig neben mir, mit Augen wie Mühlenräder, er will zu Herschel laufen und ihn zurückholen, bevor es zu spät ist. Zwei Mann müssen ihn mit Gewalt festhalten, und einer muß flüstern: »Bleib ruhig, du Idiot, du machst sie selber noch auf ihn aufmerksam!«
Ich kann nicht hören, was Herschel redet und was die drin ihm sagen, dafür ist die Entfernung viel zu groß, aber denken kann ich es mir, und das hat nichts mit vagen Vermutungen zu tun. Je länger ich überlege, um so klarer weiß ich seine Worte, auch wenn er sie mir nie bestätigt hat.
»Hallo! Hört ihr mich?« sagt Herschel als erstes.
»Wir hören dich«, muß eine Stimme aus dem Wageninneren antworten. »Wer bist du?«
»Ich bin aus dem Ghetto«, sagt Herschel dann. »Ihr müßt aushalten, nur noch kurze Zeit müßt ihr aushalten. Die Russen sind schon bei Bezanika vorbei!«
»Woher weißt du das?« fragen sie von drinnen, alles ganz logisch und zwangsläufig.
»Ihr könnt mir glauben. Wir halten ein Radio versteckt. Ich muß wieder zurück.«
Die Eingeschlossenen bedanken sich fassungslos, ein weißes Täubchen hat sich zu ihnen in die Finsternis verirrt, ihre Worte sind unerheblich, sie wünschen ihm vielleicht Glück und Reichtum und hundertzwanzig Jahre Leben, bevor sie hören, wie seine Schritte sich entfernen.
Alle blicken gebannt zu Herschel, der den Rückweg in Angriff nimmt, hirnverbrannt wie wir sind, stehen wir da und gaffen, anstatt weiterzuarbeiten und so zu tun, als wäre alles wie es sich gehört. Zuerst halten wir Roman von einer großen Dummheit ab, dann begehen wir sie selber, vielleicht wäre ihnen Herschel auch so nicht entkommen, wer will das hinterher wissen, jedenfalls tun wir nichts, was sie von ihm ablenken könnte. Jetzt erst scheint er die Angst zu entdecken, bis dahin ist alles wie von selbst gegangen, wie nach unergründlichen Gesetzen, denen auch die Traumwandler gehorchen. Die Deckung ist mehr als dürftig, so gut wie nicht vorhanden, Herschel weiß schon, warum er Angst hat. Ein Stapel Kisten, ein weiterer leerer Waggon, sonst nichts auf seinem Weg, auf dem er eigentlich Geleitschutz brauchte.
Ich sehe, wie er den Kopf um die Ecke des Waggons schiebt, Zentimeter um Zentimeter, mit den Blicken ist er bereits bei uns, ich höre ihn schon von seiner Weltreise erzählen, bis jetzt ist die Gegenpartei ruhig. Der Posten am Tor steht mit dem Rücken zum Bahnhofsgelände, kein Laut erregt seine Aufmerksamkeit, die beiden anderen sind verschwunden, sind im Haus, ist anzunehmen, wohin der Regen sie vertrieben hat.
Ich sehe, wie Herschel die letzten Vorbereitungen für den großen Sprung trifft, ich sehe ihn beten. Obwohl er noch an dem Waggon steht und die Lippen bewegt, ist deutlich zu erkennen, daß er nicht mit denen drin redet, sondern mit seinem Gott. Und dann drehe ich den Kopf zum Steinhaus, es hat ein kleines Giebelfenster, das steht offen, auf dem Fensterbrett liegt ein Gewehr und wird in aller Seelenruhe eingerichtet. Den Mann dahinter kann ich nicht erkennen, in dem Raum ist es zu dunkel, ich sehe nur zwei Hände, die die Richtung des Laufes korrigieren, bis sie zufrieden sind, dann stehenbleiben wie gemalt. Was hätte ich denn machen sollen, der ich nie
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