Jakob der Luegner
ein Held gewesen bin, was hätte ich machen sollen, wenn ich einer wäre, schreien höchstens, aber was hätte das genutzt? Ich schreie nicht, ich schließe die Augen, eine Ewigkeit vergeht, Roman sagt zu mir: »Was machst du die Augen zu?
Sieh doch, er schafft es, der Verrückte!«
Ich weiß nicht warum, ich denke in diesem Augenblick an Chana, die sie vor einem Baum erschossen haben, dessen Namen ich nicht kenne, ich denke noch nach dem Schuß an sie, bis alle um mich herum durcheinanderreden. Ein einzelner trockener Schuß nur, die zwei Hände hatten, wie gesagt, reichlich Zeit, alles bestens vorzubereiten, Herschels ganzes Gebet über. Er hört sich seltsam an, ich habe noch nie einen einzelnen Schuß gehört, immer nur mehrere auf einmal, als ob ein ungezogenes Kind trotzig mit dem Fuß aufstampft, oder ein Luftballon wird zu heftig aufgeblasen und platzt, oder gar, wenn ich schon in Bildern schwelge, Gott hat gehustet, Gott hat Herschel eins gehustet.
Die Eingeschlossenen hinter den rotbraunen Wänden mögen fragen: »He, du, was ist geschehen?«
Herschel liegt auf dem Bauch, zwischen zwei Bohlen, quer über dem Gleis. Seine verkrampfte rechte Hand ist in eine schwarze Pfütze gefallen, das Gesicht, von dem ich vorerst nur die eine Hälfte sehen kann, kommt mir verwundert vor mit dem offenen Auge. Wir stehen stumm um ihn herum, die kleine Pause gönnt man uns, Roman beugt sich über ihn, zieht ihn vom Gleis herunter und dreht ihn auf den Rücken.
Dann nimmt er ihm die Pelzmütze ab, seine Finger haben Mühe, die Klappen unter dem Kinn aufzuknöpfen. Er steckt die Mütze in die Tasche und geht weg. Zum erstenmal auf diesem Bahnhof dürfen Herschels Schläfenlöckchen frei im Wind wehen, viele von uns haben sie nie vorher gesehen, kennen sie nur vom Erzählen, so sieht Herschel Schtamm also in Wirklichkeit aus, ohne Maskerade. Zum letztenmal sein Gesicht, schwarz umrahmt von nasser Erde und viel Haar, die Augen hat ihm irgendwer geschlossen. Ich will nicht lügen, wozu auch, eine Schönheit war er nicht, er war sehr fromm, wollte Hoffnung weitertragen und ist daran gestorben.
Der Posten vom Tor ist unbemerkt hinter uns getreten, es wird allmählich Zeit, uns auf andere Gedanken zu bringen, er sagt: »Genug geglotzt, oder habt ihr noch nie’n Toten gesehen?
Los, macht euch wieder an die Arbeit, dalli, dalli!«
Wir werden ihn nach Feierabend mitnehmen und begraben, das ist erlaubt, ohne daß es ausdrücklich in einer der vielen Verordnungen geschrieben steht, das hat sich einfach so eingebürgert. Ich sehe noch zu dem Fenster hoch, das inzwischen wieder geschlossen ist, kein Gewehr mehr, keine Hände, es kommt auch keiner von ihnen aus dem Haus, sie kümmern sich nicht weiter um uns, für sie ist der Fall erledigt.
Das Leben geht weiter, Schmidt und Jakob bemühen sich wieder um die Säcke. Soviel hat Schmidt schon verstanden, daß er jetzt schweigt, daß er für sich behält, warum Herschel unbedingt zu dem Waggon laufen mußte, obgleich ihn der Eisenbahner vorhin nachdrücklich und definitiv gewarnt hat.
In Jakobs Kopf geben sich die Selbstvorwürfe die Klinke in die Hand, man weiß erschreckend genau, welche Rolle man in diesem Stück gespielt hat. Du zimmerst dir kargen Trost, du denkst dir eine große Waage mit zwei Schalen, auf eine legst du Herschel, auf die andere türmst du alle Hoffnung, die du im Laufe der Zeit unter die Leute gebracht hast, nach welcher Seite wird sie niedergehen? Die Schwierigkeit ist, du weißt nicht, wieviel Hoffnung wiegt, niemand wird es dir sagen, du mußt alleine die Formel finden und einsam die Rechnung beenden.
Aber du rechnest vergebens, die Schwierigkeiten häufen sich, hier noch eine, wer soll dir verraten, welches Unheil durch deine Erfindungen verhindert wurde? Zehn Katastrophen oder zwanzig oder auch nur eine einzige, das Verhinderte bleibt dir ewig verborgen, nur was du angerichtet hast, ist sichtbar, da liegt es neben dem Gleis im Regen.
Nachher noch, beim Mittag ist man dem Resultat der Aufgabe mit den vielen Unbekannten kein Stück näher gekommen, Jakob löffelt abseits seine Suppe, heute läßt jeder jeden in Ruhe.
Er ist Roman Schtamm aus dem Wege gegangen, Roman hat ihn nicht gesucht, nur beim Handwagen, auf den die Blechschüsseln nach Gebrauch gelegt werden, stehen sie sich plötzlich gegenüber. Sie sehen sich in die Augen, besonders Roman, Jakob erzählt mir: »Er hat mich angesehen, als hätte ich seinen Bruder erschossen.«
Der Feierabend
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