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Jakob der Luegner

Jakob der Luegner

Titel: Jakob der Luegner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jurek Becker
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für ein Waggon gewesen sein?« fragt Schmidt.
    »Was weiß ich«, sagt Jakob.
    »Dabei kann Herr Schtamm noch von Glück reden, daß er nichts abgekriegt hat. In der Tat befahl ja der Posten am Morgen, daß wir uns um diesen Waggon nicht kümmern sollen.
    Sie haben es doch sicherlich auch gehört?«
    »Ja, ja.«
    »Wozu geht er also hin?«
    »Du liebe Güte, woher soll ich das wissen!«

    Schmidt hat kein Gefühl dafür, wann ein Gespräch zu Ende ist, er äußert einige Ansichten über die Nützlichkeit der strengen Befolgung von Befehlen, über die Zunahme der Überlebenschancen, die sich aus solcher Einhaltung ergibt, er formuliert einen kurzen Vortrag zur faktischen Rechtslage, die durch die momentanen Machtverhältnisse nun einmal gegeben ist. Jakob hört bloß mit halbem Ohr hin. Offen gesprochen, Schmidt ist einem nicht sonderlich sympathisch, er hält sich, ohne es jemals ausdrücklich zu sagen, für besser und klüger und mehr Kultur, er würde wahrscheinlich gegen das ganze Ghetto kein Wort einzuwenden haben, wenn sie nicht ausgerechnet ihn mit hineingesteckt hätten.
    Wenn er sich Mühe gibt, die Unterschiede zu verwischen, das tut er meistens, wird man den Eindruck nicht los, daß er sich verstellt, seht mal wie nett von mir, ich tue einfach so, als wären wir von einer Sorte. Die Unterschiede sind da, er kommt nicht gegen sie an, schon wie er einen ansieht oder redet oder ißt oder von den Deutschen spricht oder von früher, vor allem aber wie er denkt. Man kann sich seine Leidensgefährten nicht aussuchen, Leidensgefährte ist er unzweifelhaft, er zittert nicht anders als wir um seine Portion Leben, das heißt ein bißchen anders doch, auf seine besondere Art, die unsereinem nun mal nicht so angenehm ist.
    Bald kommt Herschel Schtamm mit einem Sack angeschleppt, die durchnäßte Pelzmütze auf dem Kopf, unter der er seine Frömmigkeit verbirgt, Jakob fragt ihn: »Was war los, Herschel?«
    »Du wirst es nicht glauben, ich habe in dem Waggon Stimmen gehört«, sagt Herschel.
    »Stimmen?«
    »Stimmen«, sagt Herschel. »So wahr ich hier stehe, menschliche Stimmen.«

    Er mag den kalten Schauer auf seinem Rücken spüren, besonders er, dem unter der Fellmütze immer viel zu heiß ist, er bläst die Backen auf und nickt ein paarmal sorgenvoll, du kannst dir denken, was das zu bedeuten hat. Jakob kann, er begleitet Herschels Darbietung mit hilflosem Seufzen, mit Augenschließen und die Brauen dabei hochziehen, sie führen ein kleines unhörbares Zwiegespräch, und Schmidt steht daneben und versteht kein Sterbenswörtchen.
    Mischa kommt heran, er lädt seinen Zementsack ab, Mischa sagt leise: »Ihr müßt weitermachen, der Posten sieht schon zu euch her.«
    Jakob hat auf einmal zwei linke Hände, der Sack entgleitet ihm, Schmidt sagt ärgerlich: »Passen Sie doch auf!«
    Jakob muß besser aufpassen, ihm ist, erinnert er sich später, wie einem, der eben noch von Glück und stillen Winkeln geträumt hat, da kommt jemand und zieht dir die wärmende Decke fort, und du liegst nackt und zitterst vor Ernüchterung.
    »Sie sind ja so schweigsam?« sagt Schmidt nach einer Weile.
    Jakob ist weiter schweigsam, unerschütterlich betrübt nimmt er die Säcke in Empfang, von Zeit zu Zeit nur ein verstohlener Blick zu dem unscheinbaren Waggon auf dem Abstellgleis, hinter dessen Wand menschliche Stimmen gehört worden sind.
    Luftlöcher dicht unter dem Dach, so groß ist keiner, daß er da herausschauen könnte, und keiner schreit, von drinnen nicht und von draußen nicht, warum schreit bloß keiner, die Säcke wollen wohl geordnet sein. Steht rotbraun auf dem Abstellgleis und wie vergessen, aber sie vergessen ihn schon nicht, in mancher Hinsicht ist auf sie Verlaß. Gestern war er noch nicht hier, morgen wird er wieder fort sein, nur kurzer Zwischenaufenthalt auf einem Weg nach irgendwo. So einen hat man schon hundertmal beladen und entladen und beladen, Kisten, Kohlen, Kartoffeln unter strenger Bewachung, Maschinen, Steine, genau solche Waggons, aber der hier wird nicht angerührt, sonst knallt’s.
    »Glauben Sie, daß es stimmt?« fragt Schmidt.
    »Daß was stimmt?«
    »Das mit den Stimmen?«
    »Stellen Sie doch nicht solche Fragen. Denken Sie, Herschel Schlamm will sich wichtig machen?«
    »Aber wer kann denn in dem Wagen sein?«
    »Wer schon?«
    Schmidts Mund öffnet sich, ihm kommt jetzt erst ein furchtbarer Verdacht, er haucht: »Sie meinen …«
    »Ja, ich meine!«
    »Sie meinen, jetzt schicken sie noch welche in

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