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Jakob der Luegner

Jakob der Luegner

Titel: Jakob der Luegner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jurek Becker
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Die trockenen Schmidt und Jakob bemühen sich auch ein wenig, zur Abwechslung ohne Plaudern, wieviel Säcke auf einen einzigen Waggon passen. Bis zur nächsten kleinen Unterbrechung, bis Schmidt etwas Wichtiges einfällt, bis er fragt: »Nehmen Sie mir meine Neugier nicht übel, Herr Heym, was sagt eigentlich Sir Winston zur augenblicklichen Situation?«
    »Wer?«
    »Churchill? Der englische Premierminister?«
    »Keine Ahnung, was er sagt. Haben Sie noch nicht gehört?
    Mein Radio ist kaputt.«
    »Machen Sie keine Scherze!«
    »Was denken Sie denn von mir?« sagt Jakob ernst.
    Schmidt scheint betroffen, registriert Jakob, genau wie die anderen heute schon, denen man es mit hängenden Schultern und verzweifelter Stimme gleich am Morgen nicht verschweigen durfte, die einzige Neuigkeit des Tages. Schmidt, der etwas hochnäsige, den ein Witzbold Leonard Assimilinski getauft hat, dieser Schmidt scheint einen Stich im Herzen zu fühlen wie alle, plötzlich gleicht er ihnen aufs Haar.
    »Wie ist es denn geschehen?« fragt er leise.
    Die Antwort darauf wurde in der Frühe abgewandelt, es war nicht Zeit genug, sie jedem einzelnen darzureichen wie Kowalski, in Seidenpapier gewickelt, Jakob hat sich zu erheblichen Streichungen entschließen müssen. Wie es geschehen ist? »Na wie schon? Wie so ein Radio eben kaputtgeht. Gestern spielt es noch, und heute spielt es nicht mehr.«
    Die Reaktionen waren gemischt, einige haben den ungerechten Gott verflucht, andere haben zu ihm gebetet, man hat sich damit getröstet, daß Radio und Russen zwei grundverschiedene Dinge sind, einer hat geweint wie ein Kind, die Tränen sind ihm zwischen den Regentropfen unauffällig die Wangen heruntergelaufen. Einer hat gesagt: »Hoffentlich ist das kein böses Zeichen.«
    Jakob konnte nicht ja und nicht nein sagen, er mußte sie ihrem kleinen Schmerz überlassen, lieber dem als der ganzen Wahrheit. Er kann auch Schmidt jetzt keine trostreichen Worte in die hängenden Ohren sagen, sein Vorrat an Trost ist erschöpft. Erinnern wir uns doch bitte zwischendurch nur kurz daran, daß Jakob genauso trostbedürftig ist wie alle Armseligen um ihn herum, genauso abgeschnitten von allem Nachschub an Neuigkeiten, daß ihn die gleichen Hoffnungen plagen. Nur ein verrückter Zufall hat aus einem Gleichen einen Besonderen gemacht und verbietet ihm bis heute, die Karten offen auf den Tisch zu legen. Doch nur bis heute, heute habe ich euch einen Blick in meinen Ärmel werfen lassen, ihr habt gesehen, wie leer er ist, da steckt kein Trumpfas mehr drin. Jetzt sind wir alle gleich gescheit, nichts unterscheidet uns mehr, nichts bis auf euren Glauben, ich wäre einmal ein Besonderer gewesen.
    »Es hilft alles nichts, Herr Schmidt, wir müssen weitermachen.
    Und jetzt!«
    Über den Bahnhof dröhnt durch den leiser gewordenen Regen eine unbekannte Stimme: »Hände weg da!«
    Jakob und Schmidt laufen zur Tür und sehen, was sich draußen tut, der Zwilling Herschel Schtamm steht auf dem Abstellgleis bei einem ganz gewöhnlichen Waggon, der noch verschlossen ist. Gedacht wird er haben, der ist als nächster an der Reihe mit Beladen, da hört er die unbekannte Stimme, die nur ihn meinen kann, und zieht schnell die Hand vom Verschlußhebel weg, gerade wollte er ihn nach oben drücken.
    Das einzige Bemerkenswerte an dem Vorfall ist bis jetzt die Stimme, die allerdings sehr bemerkenswert, sie gehört der Pfeife, deswegen unbekannt. Die Pfeife in der Eisenbahneruniform geht so eilig, wie es ihr Holzbein erlaubt, auf Herschel Schtamm zu, der erschrocken zurückweicht, die Pfeife bleibt an dem Waggon stehen, prüft den Verschluß, der sitzt noch fest.
    »Hast du vorhin nicht gehört? Dieser Waggon wird nicht angerührt, verdammt noch mal!«
    »Jawohl«, sagt Herschel Schtamm.
    Dann wendet sich die Pfeife an alle Juden, die in der Arbeit eingehalten haben und den Reiz des Niegehörten genießen, mit angehobener Stimme wendet sie sich: »Habt ihr es jetzt alle kapiert, ihr Drecksäcke? Dieser Waggon hier wird nicht angerührt! Beim nächstenmal knallt’s!«
    So also klingt seine Stimme, ich würde sagen keine sehr gelungene Premiere, ich würde sagen schwacher Bariton, man hätte sich einen angenehmeren Klang gewünscht. Die Pfeife schreitet würdevoll zurück ins Steinhaus, Herschel Schtamm macht sich schleunigst wieder an die Arbeit, um aus dem Rampenlicht zu kommen, wir anderen auch, der Zwischenfall, der gar kein richtiger war, hat sein vorläufiges Ende gefunden.
    »Was mag das

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