Jakob der Luegner
Rolle. Der tote Herschel Schtamm, sein Bruder Roman mit den peinigenden Blicken, die eingeschlossenen Unbekannten auf dem Abstellgleis, sie alle haben auch ein Wort mitzureden, bevor das Radio endgültig vernichtet wird. Und die einzelnen Juden, die in der Frühe hoffnungsvoll mit Fragen angekommen sind und bestürzt wieder gegangen, ohne die Neuigkeit, auf die sie ein Recht haben. Die werden inzwischen schon zu Hause sein, Verwandte und Bekannte klopfen an die Türen, was Neues auf dem Bahnhof zu hören war.
Nichts, werden sie erfahren, das Radio sagt nichts mehr, es ist kaputt, gestern spielte es noch, und heute kommt kein Ton mehr raus. Die Verwandten und Bekannten gehen wieder, verbreiten die letzte Neuigkeit in allen Häusern und Straßen, die bald wieder so elend aussehen wie vor dem Abend, an dem ein Scheinwerfer Jakob gegen halb acht auf dem Damm der Kurländischen festgehalten hat. Vieles will bedacht sein, bevor leichtfertige Entschlüsse gefaßt werden, bevor man sich Ruhe erkauft, die keine ist.
»Zeigst du mir jetzt das Radio?«
»Ich habe dir gestern schon gesagt, nein. Hat sich inzwischen vielleicht etwas geändert?«
»Ich finde es ja doch«, sagt Lina.
»Dann such weiter.«
»Wollen wir wetten, daß ich es finde?«
Sie geht zum offenen Angriff über, soll sie lieber suchen als Fragen stellen, das nächste Radio, das sie findet, wird Jakob ihr nicht wieder ausreden. Und das Radio, das sie nie findet, bleibt vorerst vom Feuer verschont, daran sind viele Gründe schuld, an erster Stelle aber Herschel, der Gelockte, der hat es schon am Vormittag, als er im Regen zwischen den Bohlen lag, so gut wie repariert.
Jakob geht gehobenen Herzens zur Arbeit, wer seine Haltung und den zügigen Schritt bemerkt und Vergleiche anstellt zu gestern oder zu den letzten Tagen, dem springen Veränderungen ins Auge, da schreitet ein ausgeglichener Mensch. Gehobenen Herzens, denn die Stunden im Bett waren reich an wichtigen Entschlüssen, die Verbindung zur Außenwelt ist wiederhergestellt. Das Radio hat die halbe Nacht gespielt, gleich nachdem Lina abgeschüttelt war, ist es angegangen und hat gespielt, bis der Schlaf ungerufen gekommen ist, aber da hatte man schon die und jene Botschaft im Ohr, und nicht von schlechten Eltern. Gehobenen Herzens, denn das Flämmchen der Erwartung soll nicht verlöschen, so Jakobs Ratschluß, die halbe Nacht hat er dafür Reisig, Holz und Zunder gesucht. Ihm ist ein beachtlicher Sprung nach vorne gelungen, ihm und den Russen, er hat sie in aller Stille eine große Materialschlacht gewinnen lassen, an dem Flüßchen Rudna, das nicht gleich vor der Haustür plätschert, aber doch erfreulich näher als die Stadt Bezanika.
Beim Überschlagen der bisher gelieferten Nachrichten ist Jakob aufgefallen, daß es sich rundum besehen nur um in die Länge gezogene Nichtigkeiten handelt, bis auf die allererste von Bezanika nichts mit Hand und Fuß. Aus jedem Einfall hat er eine Riesengeschichte gemacht, oft unglaubwürdig und durchschaubar, Zweifel sind bis zur Stunde nur deshalb ausgeblieben, weil die Hoffnung sie blind und dumm gemacht hat. Doch in der Nacht ist vor der Schlacht an der Rudna eine Erkenntnis gewonnen worden, Jakob hat endlich die Quelle seiner Schwierigkeiten gesehen. Mit anderen Worten, kaum war das Licht gelöscht, da leuchtete ihm auf, warum ihm die Erfindungen so mühsam und zuletzt fast gar nicht mehr gelangen. Er war zu bescheiden, argwöhnte er, er hatte stets versucht, sich mit seinen Nachrichten in Bereichen zu bewegen, die später einmal, wenn das Leben wieder seinen geregelten Gang geht, nicht nachzuprüfen sind. Bei jeder Neuigkeit hat ihm Befangenheit im Wege gestanden, irgendein schlechtes Gewissen, die Lügen kamen holprig und widerwillig von seinen Lippen, als suchten sie ein Versteck, um sich in aller Eile zu verkriechen, bevor sie jemand näher betrachtete. Aber dieses Vorgehen war von Grund auf falsch, so wurde letzte Nacht errechnet, ein Lügner mit Gewissensbissen wird sein Leben lang ein Stümper bleiben.
In dieser Branche sind Zurückhaltung und falsche Scham nicht angebracht, du mußt da aus dem vollen schöpfen, die Überzeugung muß dir im Gesicht geschrieben stehen, du mußt ihnen vorspielen, wie einer auszusehen hat, der das schon weiß, was sie erst im nächsten Augenblick von dir erfahren. Man muß mit Zahlen und mit Namen und mit Daten um sich werfen, die Schlacht an der Rudna soll nur ein bescheidener Anfang sein.
Sie wird nie in die Geschichte
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