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Jakob der Luegner

Jakob der Luegner

Titel: Jakob der Luegner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jurek Becker
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Hause«, sagt Preuß.
    »Schnell, schnell!«
    Preuß öffnet, weil sich drinnen nichts rührt, die Tür auf Kirschbaums Seite und sagt noch einmal: »Wir sind da. Steigen Sie bitte aus.«
    Aber Kirschbaum sitzt, als wäre er mit seinen Gedanken längst noch nicht im reinen, er wendet nicht einmal den Kopf zu Preuß. Späte Aufsässigkeit oder die sprichwörtliche Zerstreutheit des Gelehrten, denkbar schlecht gewählter Zeitpunkt für was auch immer, man wird ungeduldig, Meyer wüßte schon, was da zu tun wäre.
    Preuß greift den Professor am Arm, sagt leise: »Machen Sie doch keine Schwierigkeiten«, Korrektheit bis zuletzt, zieht ihn mit sanfter Gewalt nach draußen.
    Kirschbaums Ausstieg vollzieht sich überraschend, er rutscht gemächlich Preuß entgegen, der zu überrascht ist, um ihn zu halten, Kirschbaum fällt aus dem Wagen, auf die verwahrloste Erde.
    »Was ist denn los?«
    Der Leibarzt mengt sich zwischen die zwei, beugt sich über den jüdischen Patienten, mühelos gelangt er zum eindeutigen Untersuchungsergebnis.
    »Der Mann ist ja tot!«
    Er sagt Preuß nichts Neues, inzwischen nicht mehr, Preuß nimmt die Ledertasche aus dem Wagen. Rundlich und braun, das übliche Ärzteköfferchen. »Müssen Sie etwas mitnehmen?« –
    »Medizinische Utensilien.« – »Schon gut.«
    Vielleicht hat man ihn selbst erst auf die Idee gebracht.
    Preuß öffnet die Tasche, findet zwischen dem Kram das Röhrchen. Das gibt er dem Leibarzt.
    »Gegen Sodbrennen«, sagt Preuß.
    »Idiot«, sagt der Leibarzt.

    Nun diese Erklärung, die angekündigte.
    Die eigentlich überflüssige, aber ich stelle mir vor, daß mancher mißtrauisch die Frage stellen wird, auf welchem Wege ich in dieses Auto gelangt sein will. Doch kaum über Kirschbaum, auf welchem Platz also mein Informant gesessen hat, und nicht einmal unberechtigt wird mancher danach fragen, von seiner Warte aus.
    Ich könnte natürlich antworten, ich bin kein Erklärer, ich erzähle eine Geschichte, die ich selbst nicht verstehe. Ich könnte sagen, ich weiß von Zeugen, daß Kirschbaum in das Auto gestiegen ist, ich habe in Erfahrung gebracht, daß er am Ende der Fahrt tot war, das Stück dazwischen kann sich nur so oder ähnlich zugetragen haben, anders ist es nicht vorstellbar. Aber das wäre gelogen, denn das Stück dazwischen kann sich sehr wohl anders zugetragen haben, ich meine sogar, viel eher anders als so. Und dieser Umstand ist, vermute ich, der wirkliche Grund für meine Erklärung.
    Also: Einige Zeit nach dem Krieg bin ich in unser Ghetto gefahren, während meines ersten Urlaubs. Meine wenigen Bekannten hatten mir abgeraten, die Reise würde mir nur das ganze nächste Jahr verderben, Erinnerungen seien eins und leben ein zweites. Ich habe ihnen gesagt, daß sie recht hätten und bin gefahren. Jakobs Zimmer, das Revier, die Kurländische, Mischas Zimmer, der Keller, ich habe mir alles in Ruhe angesehen, gemessen, geprüft oder einfach bloß angesehen. In Jakobs Diele bin ich auch gewesen, ein Schuster war dort provisorisch eingezogen, er hat zu mir gesagt:
    »Bis ich was Besseres finde.«
    Mir schien, daß es unter dem Leder irgendwie angebrannt roch, aber dem Schuster schien das nicht. Am vorletzten Tag meines Urlaubs habe ich beim Kofferpacken nachgedacht, ob ich nicht etwas vergessen hätte, wahrscheinlich würde ich nie mehr in diese Stadt zurückkehren, und jetzt wäre noch Gelegenheit für Vergessenes. Als einziges fiel mir Kirschbaums Autofahrt ein, doch die kam mir unkontrollierbar vor, außerdem fand ich, sie wäre nicht so überaus bedeutend für die Geschichte, um derentwillen ich gekommen war. Dennoch ging ich, wahrscheinlich aus Langeweile, am Nachmittag in die russische Kommandantur, oder weil ich kein geöffnetes Restaurant finden konnte.

    Der diensthabende Offizier war eine Frau von ungefähr vierzig Jahren, im Range eines Leutnants. Ich habe ihr erzählt, daß ich in dem Ghetto war, daß mein Vater und Kirschbaum vor dem Krieg eng miteinander befreundet gewesen sind, daß mich daher Kirschbaums Schicksal interessiert. Ich habe eine richtige Rote-Kreuz-Aktion daraus gemacht. Dann habe ich ihr den Zusammenhang zwischen Kirschbaum und Hardtloff erläutert, ich wüßte nur, daß Kirschbaum in das Auto gestiegen sei, nichts weiter, und das war die Wahrheit. Die beiden Männer, die ihn geholt hätten, würden Preuß und Meyer heißen oder so ähnlich.
    Und ob sie mir, wenn schon nichts über den Verbleib des Professors, wenigstens etwas über die

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