Jakob der Luegner
stolz, das hinkt den Ereignissen nicht hinterher.
Als die Trillerpfeife pünktlich zu Mittag schrillt, trennt sich Jakob endgültig von diesem schönen Gedanken. Das Wägelchen mit den Blechschüsseln wird herangezogen, wir bilden die gewohnte makellose Reihe.
Einer hinter Jakob fragt leise: »Hast du vorige Nacht wieder gehört?«
»Ja«, sagt Jakob.
»Haben sie da auch was von Hardtloff erzählt?«
»Blödsinn. Denkst du, die geben sich mit solchen Kleinigkeiten ab?«
Einer vor Jakob fragt: »Welche Sender hörst du eigentlich?«
»Wie es gerade kommt«, sagt Jakob. »Moskau, London, Schweiz, das hängt auch vom Wetter ab.«
»Deutsche Sender nie?«
»Wozu?«
»Hörst du auch manchmal Musik?«
»Selten«, sagt Jakob. »Nur wenn ich auf Nachrichten warte.
Ich habe das Radio ja nicht zum Vergnügen.«
»Ich möchte für mein Leben gerne wieder mal Musik hören.
Irgendwas«, sagt einer vor dem vor Jakob. Die Kessel mit der Suppe lassen lange auf sich warten, dabei ist die Reihe auf Ehrenwort schnurgerade. Man korrigiert von selbst immer noch eine Unregelmäßigkeit, sogar die kaum wahrnehmbaren, aber das schafft diesmal die Kessel nicht herbei. Statt dessen wird das Giebelfenster im Steinhaus geöffnet, eine Hand gebietet Ruhe, eine Stimme ruft von oben, wie der ärgerliche liebe Gott persönlich: »Zehn Minuten Pause! Mittag fällt heute aus!«
Den Schüsselwagen schiebt man wieder fort, die hungrige Schlange verliert an Ordnung und verläuft sich über das Gelände. Löffel werden sauber in Taschen zurückgesteckt, spärliche Flüche, Verwünschungen und böse Blicke, euch Hunden werden es die Russen schon zeigen.
Kowalski fragt in meiner Nähe: »Kriegen wir kein Essen, weil Hardtloff tot ist?«
»Ist doch klar«, sage ich.
»Wenn ihr mich fragt«, sagt Kowalski, »das ist es wert.«
Er erntet nicht gerade Lachstürme, kein Mittag, das trifft empfindlich, gewissermaßen ein Schlag auf den Magen.
Aber Kowalski versucht es netterweise mit einem weiteren schlichten Scherz: »Stellt euch vor, jedesmal wenn einer von uns draufgeht, kriegen die Deutschen nichts zu fressen. Das möchte ein schönes Hungern sein!«
Nebbich.
Wo Jakob hingeht für die zehn Minuten, dorthin folgt ihm ein treuer kleiner Schwarm von Juden, Kowalski gesellt sich hinzu, bevor man ihn noch recht vermißt. Jakob weiß sie hinter sich, das Essen fällt aus, also muß ein Wort von ihm Ersatz schaffen.
Er geht zu einem leeren Waggon, dort finden sie alle einen Sitzplatz, Rücksicht, die längst zur Gewohnheit geworden ist.
Jakob ist nicht ganz wohl in seiner Haut, er hatte sich vorgenommen, auf dem gestrigen Lorbeer ein wenig auszuruhen, auf der Befreiung des Städtchens Tobolin. Major Karthäuser hatte unter unserer begeisterten Anteilnahme seinen Namenszug schwungvoll unter die Kapitulationsurkunde gesetzt, die Festung war gefallen, aber das war gestern. Kein Mensch konnte ahnen, wie bedürfnisreich der nächste Tag sein würde, Jakob sitzt unvorbereitet inmitten seiner Gemeinde.
Plötzlich, bekomme ich erzählt, wie sie so sitzen und ihn ansehen, denn gleich muß er anfangen zu berichten, fährt ihm ein böser Gedanke durch den Kopf, vertreibt Tobolin und alle Siege. Plötzlich wird ihm klar, daß zwei Nachrichten heute auf den Bahnhof gedrungen sind, wenn auch nur eine davon gleich begriffen wurde, Hardtloff. Die andere, die schlimme, ist unbeachtet geblieben, obwohl sie klar und deutlich in der Luft lag, es fehlte nur an Mühe.
»So gut ist die Nachricht leider gar nicht«, sagt Jakob bedenklich.
»Von welcher sprichst du?«
»Daß Hardtloff gestorben ist.«
»Hast du dir was aus ihm gemacht?« wird gespottet.
»Aus ihm nicht«, sagt Jakob. »Aber aus Kirschbaum.«
Man muß leider seine Ansicht teilen, leicht fällt das nicht, ein zwingender Zusammenhang, die meisten verstehen ohne weitere Erklärung. Die Verhältnisse sind nicht danach, daß ein jüdischer Arzt seinen arischen Patienten beträchtlich überleben könnte, in diesem besonderen Fall schon gar nicht. »Was für ein Kirschbaum?« fragt einer, man kann nicht jeden kennen. Er bekommt es erklärt, großer Kopf, zu Zeiten eine Berühmtheit auf dem Herzsektor, hier Jakobs Nachbar, ist geholt worden, um Hardtloff zu heilen. Dann reichlich späte stille Trauer um den Professor, die zehn Minuten vergehen ohne Fragen und Erfolgsberichte, Jakob hätte sich eine andere Ablenkung gewünscht. Er verspürt Lust zu irgendeinem Trost, man kann sie doch nicht so hungrig
Weitere Kostenlose Bücher