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Jakob der Luegner

Jakob der Luegner

Titel: Jakob der Luegner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jurek Becker
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vor, wenn ich eine davon genommen hätte!«
    »Das war ein massiver Mordversuch«, sagte ich.
    Er erzählte weiter, hinaus aus der Stadt, das letzte Stück der Fahrt, die letzte Zigarette, Meyers eindeutige Blicke, bis vor die Villa, bis der Leibarzt kam, bis Kirschbaum tot vor ihm auf der Erde lag. Wie er plötzlich verstanden hätte, was da überhaupt geschehen sei, wie er das Köfferchen aus dem Wagen holte, das Röhrchen, es dem Leibarzt gab, wie der Leibarzt sagte: »Idiot.«
    Wir schwiegen eine ganze Weile, er mußte annehmen, ich wäre so erschüttert, aber ich überlegte, wonach ich ihn noch fragen könnte. Er hatte gut erzählt, lückenlos und plastisch, ich fand auch einleuchtende Gründe, warum er sich an diese Fahrt so gut erinnerte.
    Zum Schluß wollte er mir unbedingt noch anvertrauen, wie er heute über diese unselige Zeit dächte, sich mal mit einem vernünftigen Menschen das ganze Schmalz von der Seele reden, doch deshalb war ich wirklich nicht gekommen. Ich sagte, ich wäre ohnehin schon viel zu lange geblieben, ich hätte noch zu tun, er sicher auch, ich stand auf und bedankte mich für sein Entgegenkommen.
    »Und merken Sie sich den Namen, falls Sie es nachprüfen wollen«, sagte er. »Egon Letzerich. Köln am Rhein.«
    Auf dem Korridor begegneten wir seiner Frau, die gerade die Kinder ins Badezimmer führte. Sie trugen schon Schlafanzughosen, obenherum waren sie nackt.
    »Na, wie sagt man?« sagte Preuß zu ihnen. Beide gaben mir gleichzeitig die Hand, machten Knicks und Diener und sagten:
    »Auf Wiedersehen, Onkel.«
    »Auf Wiedersehen«, sagte ich.
    Die drei verschwanden im Bad, Preuß ließ es sich nicht nehmen, mich bis vor das Haus zu bringen. Falls die Haustür schon zugeschlossen wäre.
    Die Haustür war noch offen. Preuß trat vor mir auf die Straße, er holte tief Luft, breitete die Arme aus und sagte: »Es wird wieder Mai.«
    Ich hatte den Eindruck, er war ein wenig angetrunken, immerhin hatte er zwei Liter lauwarmes Bier zu sich genommen, bis auf ein Glas.
    »Ach ja«, sagte ich, »wie war das eigentlich mit seiner Schwester damals?«
    »Kirschbaums Schwester? Mit der hatten wir nichts zu tun.

    Die habe ich bloß bei dem einen Besuch gesehen. Ist da noch was gewesen?«
    Als ich mich endgültig verabschieden wollte, sagte er:
    »Würden Sie mir auch eine Frage beantworten?«
    »Natürlich«, sagte ich.
    Er zögerte einen Moment, bevor er fragte: »Woher wissen Sie meine Anschrift?«
    »Vom englischen Geheimdienst«, sagte ich. Dann ging ich wirklich.

    Hardtloff ist tot, gestorben an schwachem Herzen, die Nachricht ist bis zu uns auf den Bahnhof gedrungen. In der letzten Nacht muß es geschehen sein, als wir gestern abend den Bahnhof verlassen haben, hing die Fahne auf dem Steinhaus schlaff am gewohnten Ort, als wir heute früh zur Arbeit angetreten sind, flatterte sie lustig auf halbmast, also irgendwann dazwischen. Die Fahne für sich ist freilich nur ein vager Anhaltspunkt, sie verrät nicht mehr, als daß irgend jemand Hochgestellter von uns gegangen ist, ohne Namen zu nennen. Den Namen nannte ein Posten, und zwar einem anderen Posten, im Laufe des Vormittags hat Roman Schtamm die aufschlußreiche Unterhaltung belauscht. Er ist an einen Kistenstapel gekommen, ohne jede verwerfliche Absicht, die beiden haben dahinter gestanden und über Hardtloffs Tod geredet, es war ein glücklicher Zufall. Roman ließ sich beim Aufheben der Kiste etwas mehr Zeit als üblich, es gelang ihm erst, als die beiden Posten das Thema wechselten.
    Inzwischen weiß jeder von uns, wem die Fahne auf halber Höhe weht, Roman sah keinen Anlaß, es für sich zu behalten.
    Man kann sagen, wir tragen die Neuigkeit mit Fassung, ändern wird sich für uns kaum etwas. Wenn jemals überhaupt, dann nicht durch Hardtloffs Tod, dennoch kann man sich Schlimmeres denken. Bloß Jakob bedauert, daß Roman Schtamm und nicht er das Gespräch der Posten mitangehört hat, das Mißgeschick des Sturmbannführers hätte eine hervorragende Radiomeldung abgegeben. Nicht nur des Inhalts wegen. Es wäre die erste Meldung gewesen, die man ihm nicht auf Treue und Glauben hätte abkaufen müssen, jeder einzelne hätte die Möglichkeit besessen, sich von ihrer Richtigkeit zu überzeugen, durch eigenen Augenschein und ohne Mühe, am Fahnenmast hängt seit dem Morgen die Bestätigung. Ihnen jetzt noch zu erzählen, daß man Hardtloffs Tod schon in den Frühnachrichten vernommen hätte, wäre recht sinnlos, vorbei ist vorbei, ein Radio ist

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