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Jakob der Luegner

Jakob der Luegner

Titel: Jakob der Luegner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jurek Becker
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geschafft, mit ihrer Kaltblütigkeit, mit ihrer Übersicht, mit ihrer unerbittlichen Denkschärfe, alles Lästige hat sie von einem ferngehalten, deshalb ein letzter Blick zu ihr.
    »Dis leurs que tu n’en as plus l’habitude«, sagt sie.
    »Was redet die?« fragt Meyer Preuß und steht nun auch auf, in voller Größe.
    »Hören Sie bitte«, sagt der Professor. »Was Sie von mir verlangen, das ist ausgeschlossen. Ich könnte es als Arzt unter keinen Umständen verantworten, daß ich nach so langer Zeit …
    Immerhin habe ich seit mehr als vier Jahren keinen Patienten mehr behandelt.«
    Preuß bleibt bewundernswert gefaßt, er legt dem kampferprobten Meyer die beruhigende Hand auf die Schulter, Sonderauftrag, dann tritt er vor den Professor, aufdringlich nahe. Seine Augen drücken Tadel aus, aber nicht unfreundlich, oder erbost gar, eher mitleidig, als wollten sie einen unbesonnen Handelnden zur Besinnung rufen, bevor es zu spät ist. Während er sagt: »Ich fürchte fast, Sie haben mich mißverstanden, Herr Professor. Wir sind nicht gekommen, um Ihnen eine Bitte vorzutragen. Machen Sie uns bitte keine Schwierigkeiten.«
    »Aber ich sagte Ihnen doch …«
    »Müssen Sie etwas mitnehmen?« fragt Preuß bestimmt.
    Da begreift der Professor endlich, daß er nicht weiter nach Einwänden zu suchen braucht, die zwei bewegt anderes, als ihre Überredungskünste zu erproben. Die relative Freundlichkeit dieses Preuß ist dessen persönliche Note und berechtigt einen zu nichts. Also vergißt man alle Wenn und Aber, man eifert seiner Schwester nach. So unnahbar sein und so würdevoll wie sie, wenigstens das, wenigstens jetzt, ein Leben lang hat man sie darum bewundert, mehr noch als gefürchtet, manche nannten sie verschroben. Man wird zwei deutschen Kreaturen kein Schauspiel des Zusammenbruchs bieten, ob man etwas mitnehmen muß, ist gefragt worden, man wird vor ihnen nicht auf die Knie sinken, wie Elisa nur dasteht! Das ist auf Anhieb nicht nachzumachen, aber ganz alltägliche Bewegungen kann man finden, ein Gesicht wie Mittwoch, als wäre durch und durch Gewöhnliches geschehen, ein Würdenträger ist erkrankt, man soll ihn sich betrachten, der übliche Kleinkram.

    »Haben wir uns richtig verstanden?« fragt Preuß.
    Der Professor steht auf, unterhalb der Bücherregale sind Türen, er öffnet eine, sucht nach seiner Ledertasche, rundlich und braun, das Ärzteköfferchen.
    »Sie ist im Schrank«, sagt Elisa Kirschbaum.
    Er holt die Tasche aus dem Schrank, öffnet sie, prüft ihren Inhalt, dann hält er sie Preuß hin, der keinen Blick hineinverliert.
    »Medizinische Utensilien.«
    »Schon gut.«
    Elisa Kirschbaum öffnet den Schrank ein zweites Mal, ein Schal, sie hält ihn ihrem Bruder hin.
    »Ich brauche ihn nicht. Draußen ist es warm«, sagt er.
    »Du brauchst ihn«, sagt Elisa Kirschbaum. »Du weißt nicht, wie kühl es nach acht ist.«
    Er steckt den Schal in die Tasche, Meyer macht die Tür auf, der Abschied steht bevor.
    »Auf Wiedersehen, Elisa.«
    »Auf Wiedersehen.«
    So sieht ein Abschied aus.

    Dann vor dem Haus, sie steigen in den Wagen, sicher nach vorher festgelegter Sitzordnung, Preuß und der Professor hinten, Meyer vorne neben die Uniform. Elisa Kirschbaum steht am Fenster, die ganze Straße steht an Fenstern, aber nur das eine ist geöffnet. Der Wagen wendet in einem Zuge, die flache Borsteinkante wird überfahren, eine blaßblaue Wolke schwebt für Sekunden. Am Ende der Straße biegt er nach links, in Richtung Hardtloff.

    Preuß läßt ein silbernes Zigarettenetui aufschnappen und fragt:
    »Möchten Sie?«
    »Nein, danke«, sagt Kirschbaum.
    Meyer schüttelte den Kopf, ohne sich umzudrehen, er sieht von der Seite die Uniform an, wie die das Affentheater findet, die grinst bloß in Fahrtrichtung. Preuß belauscht die zwei im Rückspiegel, Kirschbaum nicht, er sitzt, als wäre es schade um jede Bewegung.
    »Stellen Sie doch Ihre Tasche auf die Erde«, sagt Preuß. »Es ist noch ein ganzes Stück.«
    »Wie lange etwa?«
    »Na, so dreißig Minuten.«
    Kirschbaum behält die Tasche auf dem Schoß.
    Man kommt an das Ghettotor, man hält, Meyer dreht die Scheibe herunter. Ein Posten steckt seinen Helm herein und fragt: »Was habt ihr denn da für einen Vogel?«
    »Sag bloß, den kennst du nicht!« ruft Meyer. »Das ist doch der berühmte Professor Kirschbaum!«
    Preuß hält dem Posten einen Ausweis hin und sagt sehr förmlich: »Machen Sie das Tor auf. Wir haben es eilig.«
    »Ja, ja, nichts für ungut«,

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