Jakob der Luegner
der anderen Seite der Straße, kein Mensch außer ihm. Er richtet sich auf einen langen Tag ein, doch der wird viel kürzer als erwartet.
Aus der Fabrik kommt ein jüdisches Mädchen, Mischa fragt sich, wieso kommt die raus während der Arbeitszeit, sie schlendert ziellos über den Damm, an ihm vorbei. Mischa steht unschlüssig, bis sie fast die nächste Ecke erreicht hat, dann geht er ihr nach. Sie merkt es bald, dreht kokett den Kopf, einmal und ein zweites, so ein blauäugiger breiter junger Mann ist schließlich eine Seltenheit im Ghetto, am hellichten Tag dazu.
Gleich geht sie langsamer, sie hat nichts dagegen, eingeholt zu werden, das geschieht schließlich auch, gleich hinter der Ecke steht er neben ihr.
»Entschuldigen Sie«, sagt Mischa. »Arbeiten Sie in dieser Näherei?«
»Ja«, sagt sie lächelnd.
»Wissen Sie zufällig, ob Rosa Frankfurter noch drin ist?«
Sie überlegt einige Sekunden, bevor sie sagt: »Sie sind Mischa, nicht wahr?«
»Ja«, sagt er. »Ist sie drin?«
»Vor ein paar Minuten ist sie weggegangen. Man hat ihr gesagt, sie kann heute wieder nach Hause gehen.«
»Wieviel ist das, ein paar Minuten?« fragt er, mit schon kreischender Stimme. »Wieviel, genau?«
»Vielleicht zehn«, antwortet sie, verwundert über seine plötzliche Erregung.
Wieder stürzt er davon, er rechnet fieberhaft aus, daß es zu schaffen sein müßte, wenn die zehn Minuten stimmen. Von hier bis zur Franziskaner benötigt Rosa eine knappe halbe Stunde, im Spaziergang mehr, und beeilen wird sie sich doch nicht. Man hat ihr gesagt, sie darf nach Hause gehen, ohne Angabe von Gründen, die Lumpen, da braucht es keine Eile. Mit einemmal dreht sich Mischa um, hastet denselben Weg zurück, ein Flüchtigkeitsfehler soll korrigiert werden, ein unverzeihlicher.
Das Mädchen kommt ihm langsam entgegen und lächelt wieder.
»Hat man Sie auch zurückgeschickt?« ruft er ihr schon von weitem zu.
»Ja«.
»Gehen Sie nicht nach Hause! Verstecken Sie sich!«
Er hört noch, wie sie fragt: »Aber warum denn?«
»Weil die Franziskaner deportiert wird!«
»Aber ich wohne gar nicht in der Franziskaner. Ich wohne in der Sagorsker.«
Das umständliche Gespräch kostet ihn viel zuviel Zeit, die Sagorsker also auch, er hat ihr alles gesagt, was er weiß. Sie soll sich daraus was reimen, sich das Leben retten oder nicht, wenn sie klug ist, stellt sie sich vor die Fabrik und sagt zu jeder, die sie nach Haus schicken: »Geh nicht nach Hause, versteck dich, egal wo du wohnst!« Das dreht sich ihm im Kopf, als er längst schon wieder rennt, Rosa hinterher.
Und daß die Franziskaner und die Sagorsker sich gar nicht berühren, dazwischen liegt die Blumenbindergasse, die hat wenig Häuser, vor allem Lagerplätze, die heute ungenutzt sind, aber ein paar schon. Und hinter jeder neuen Ecke sucht er Rosa, vielleicht geht sie überhaupt nicht den kürzesten Weg, vielleicht macht sie einen Spaziergang bei dem Wetter und will den geschenkten Tag genießen. Wenn sie wirklich spaziert, wäre er mit Sicherheit vor ihr in der Franziskaner, er könnte ein Ende besetzt halten und sie abfangen. Aber eben nur ein Ende, die Franziskaner hat zwei davon, welches willst du besetzen bei so vielen Enden, und um diese Tageszeit findest du für keinen Preis einen Gehilfen.
Ein neuer Hoffnungsschimmer leuchtet Augenblicke lang, Mischa setzt auf Rosas Selbsterhaltungstrieb. Gleichgültig, an welchem Ende sie auftaucht, sie wird sehen, was mit ihrer Straße geschieht. Vielleicht wird sie dann umkehren, wird in seine Wohnung laufen, sich im Hof versteckt halten und warten, bis er am Abend mit dem Schlüssel kommt. Aber allzu fest baut Mischa nicht darauf, dazu kennt er sie zu genau, die verrückte Rosa wird Vaterliebe und Mutterliebe nicht aus ihrem Kopf vertreiben können, solches nutzlose Jungmädchenzeug.
Höchstens ein Zögern wird sie bei dem Anblick zustande bringen, dann wird sie weinend in ihr Verderben laufen, dorthin wird sie laufen, wo ihre Eltern sind und sie wohl entbehren können, und keinem Menschen damit helfen.
Alle Rechnerei hat ein Ende, als er sie in einer langen, schnurgeraden Straße endlich findet. In der Argentinischen Allee, deren Lindenbäume sorgsam abgesägt sind, dicht über dem Erdboden, die folglich ein weites Blickfeld bietet.
So gut wie menschenleer, er erkennt ihr rötlichbraunes Kleid, als es noch ein Punkt ist, dann ihr blaues Kopftuch, ihren Gang, wie vorausgesagt langsam, Mischa denkt: Was für ein Glück.
Einige
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