Jakob der Luegner
Meter hinter ihr hört er auf zu rennen, geht ihr still ein paar Schritte nach, Rosa besieht sich die hübschen alten Häusergiebel, frühere Kaufmannsgegend, Rosa spaziert.
Die letzten Gedanken, bevor er sich zu erkennen gibt, sein Benehmen muß harmlos sein, er ist gerade auf dem Weg zu ihr nach Hause, weil er erfahren hat, daß die Fabrik ihr heute Ferien schenkt. Nichts von großen Sorgen, kein Sterbenswort vom Schicksal der Franziskaner darf fallen, sonst kommt ihr noch diese Elternliebe in den Sinn.
Er will ihr von hinten die Hände auf die Augen legen und sie mit verstellter Stimme raten lassen, das wäre ein zwangloser Anfang. Er merkt, daß seine Hände von Schweiß kleben, das Gesicht auch, er wischt es mit dem Ärmel trocken und sagt mit erzwungener Leichtigkeit: »Wie man sich so trifft.«
Sie dreht sich schnell um, erschrocken zuerst, dann lächelt sie, die hübschesten Mädchen lächeln Mischa zu. Rosa fragt: »Was machst du denn hier?«
»Und was machst du hier?«
»Ich gehe nach Hause«, sagt sie. »Stell dir vor, ich war noch keine Stunde in der Fabrik, da durfte ich wieder gehen.«
»Und warum?«
»Keine Ahnung. Sie haben einfach gesagt, ich kann nach Hause gehen. Ein paar andere auch, aber nicht alle.«
»Bei mir war es ähnlich«, sagt Mischa.
»Du hast heute auch frei? Den ganzen Tag?«
»Ja.«
»Schön«, sagt Rosa.
Sie hakt sich bei ihm unter, ein versprengter Passant bestaunt das junge Liebesglück.
»Wir wollen zu mir gehen«, sagt Mischa.
»Aber wieso bist du ausgerechnet hier?«
»Weil ich dich von der Fabrik abholen wollte. Als sie mir freigaben, dachte ich, vielleicht lassen sie dich heute auch laufen.«
»Bist ein kluger Junge.«
»Aber du warst gerade weg. Ein Mädchen hat es mir gesagt, eine kleine Hübsche mit roten Haaren.«
»Das war Larissa«, sagt sie.
Sie gehen zu seiner Wohnung, gemächlich, denn die Richtung macht ihm keine Sorgen, die Franziskaner bleibt links liegen.
Rosa erzählt von Larissa, daß sie manchmal mit ihr über Mischa gesprochen hat, er wird ihr doch nicht böse sein deswegen, sie nähen am selben Tisch, und der Tag ist lang. Larissa ist ein stilles Wasser, aber tief, man soll sich nicht von ihren verträumten Augen täuschen lassen. Zum Beispiel hat sie auch einen Freund, Najdorf heißt er, Josef, sie nennt ihn Jossele, arbeitet in der Werkzeugfabrik, Mischa wird ihn nicht kennen.
Sie wohnen im selben Haus, Larissa hat noch eine Mutter und zwei erwachsene Brüder, mit den beiden Brüdern ist einmal eine komische Geschichte passiert. Die haben Josef Najdorf einmal verprügelt, als sie ihn mit ihrer Schwester auf dem Dachboden erwischt haben, und wobei glaubst du wohl? Beim Herumküssen natürlich, aber Larissa hat ihnen ganz schön was erzählt. Inzwischen sind sie friedlicher, sie haben eingesehen, daß sie kein kleines Kind mehr ist, Jossele darf sie sogar manchmal in ihrer Wohnung besuchen, zu einer Unterhaltung, versteht sich. Und unvermittelt im schönsten Gerede bleibt Rosa stehen und fragt: »Wie kommt es überhaupt, daß sie uns einen ganzen Tag freigeben?«
»Woher soll ich das wissen?« sagt Mischa.
»Aber das muß doch Gründe haben?«
Er zuckt mit den Schultern, er hatte gehofft, daß sie gar nicht davon anfangen würde, die Antwort muß er ihr schuldig bleiben, aber recht hat sie schon, es ist seltsam.
»Ob das mit den Russen zu tun hat?« fragt sie.
»Mit den Russen?«
»Na ja. Wenn sie spüren, daß es mit ihnen zu Ende geht, und sie wollen sich schnell noch ein bißchen beliebt machen?« sagt Rosa. »Verstehst du nicht? Wegen später.«
»Vielleicht«, sagt Mischa, eine bessere Erklärung hat auch er nicht zur Hand.
Zu ihm nach Hause also, im Bummelgang, Rosa erweist sich auf nie gehörte Weise geschwätzig vor lauter Unbeschwertheit.
Mischa läßt ihren Redefluß ungehindert plätschern, mit Larissa hat sie ihr Pulver längst noch nicht verschossen, auch Klara und Annette und vor allem Nina haben Affären, und was für welche, weiterhin fängt ihr Vater endlich an, zaghafte Gedanken in die Zukunft zu richten. Vorgestern abend hat er einen seltsamen Zettel auf den Tisch gelegt, sagt Rosa. Auf dem standen, in drei Gruppen aufgeteilt, Theaterrollen, die seinen Vorstellungen entsprechen, die später einmal zu spielen sein werden, so Gott will, lange genug hat sie ihm die Direktion vorenthalten.
Einzelheiten weiß Rosa nicht, dafür versteht sie zu wenig vom Theater, aber es waren mindestens zwanzig.
Vor der Haustür
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