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Jakob der Luegner

Jakob der Luegner

Titel: Jakob der Luegner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jurek Becker
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bleibt ihr nicht erspart.
    Er setzt sich auf das Bett, versucht, gefaßt auszusehen, was ganz und gar gleichgültig ist, weil Rosa unverwandt nach draußen schaut. Ihre Stirn lehnt an der Scheibe, je dichter, um so eher bekommt man den Transport ins Blickfeld, ein kleiner Fleck aus Hauch bildet sich auf dem Glas, sie atmet mit offenem Mund wie alle Aufgeregten.
    »Komm doch her«, sagt er.
    Mußten sich die Idioten ausgerechnet seine Straße aussuchen, es sind nicht genug andere da, Mischa hat Lust, aufzustehen und in den Flur zu gehen, oder wenigstens in Fajngolds Zimmerhälfte, die einen Tag nach Rosas Intervention natürlich ihr altes Gesicht zurückbekam, was wird sie nur tun? Das Hundegekläff wird lauter, wenn es für einen Moment aussetzt, hört man Schritte, sogar eine einzelne Stimme, die ruft:
    »Munter, munter!«
    »Mischa!« sagt Rosa leise.

    »Mischa!« schreit sie Sekunden später. »Mischa, Mischa, Mischa, das ist unsere Straße!«
    Er steht jetzt hinter ihr, der Gedanke, daß die Eltern in dem Zug sein müssen, scheint ihr noch nicht gekommen zu sein.
    Sie zählt flüsternd Namen von Nachbarn auf, die sie erkennt, jeder hält etwas in der Hand, eine Tasche, einen Koffer, ein Tuch voll Mitnehmenswertem. Mischa findet Zeit, die Frankfurters zu suchen, er entdeckt sie vor ihr noch, Felix Frankfurter hat seinen unvermeidlichen Schal um den Hals geschlungen. Sein Gang erinnert irgendwie an Zuversicht, seine Frau geht, einen Kopf kleiner, neben ihm, sie blickt zu ihrem Fenster hinauf, Mischa war ja nie ein Geheimnis.
    Rosa ist immer noch beim Aufzählen von Namen, die Blicke ihrer Mutter geben Mischa den letzten Anstoß. Er umklammert Rosa und trägt sie weg vom Fenster, er will sie auf das Bett legen und dort gefangenhalten, aber daraus wird nichts, sie fallen unterwegs hin, weil Rosa sich wehrt. Er läßt sich schlagen und kratzen und an den Haaren ziehen, er hält nur ihren Leib umklammert, sie liegen eine Ewigkeit auf der Erde. Sie schreit, daß er sie loslassen soll, vielleicht zwanzigmal schreit sie nichts anderes, nur: »Laß mich los!« Bis kein Bellen mehr zu hören ist, keine Schritte, ihre Schläge werden schwach und hören schließlich auf. Behutsam läßt er sie los, bereit, sie im nächsten Moment wieder zu greifen.
    Aber sie bleibt regungslos liegen, mit geschlossenen Augen und schwer atmend, wie nach einer großen Anstrengung. Es klopft an die Tür, und eine Frau aus dem Haus fragt, ob sie helfen könne, ihr wäre so, als hätte jemand geschrien.
    »Nein, nein, es ist alles in Ordnung«, sagt Mischa durch die geschlossene Tür. »Danke«.

    Er steht auf und öffnet das Fenster, sonst denkt die Sonne, niemand ist zu Hause und geht wieder, wie man gehört hat, die Straße ist still und leer. Er sieht lange hinaus, als er sich umdreht, liegt Rosa noch immer auf der Erde, in unveränderter Stellung.
    »Komm, steh auf.«
    Sie steht auf, er hat den Eindruck, nicht weil er es gesagt hat.
    Noch keine Träne ist gefallen, sie setzt sich auf das Bett, er wagt nicht, sie anzureden.
    »Du blutest am Hals«, sagt sie.
    Er geht zu ihr, hockt sich vor sie hin, versucht, sie anzusehen, aber sie sieht an ihm vorbei.
    »Deswegen hast du mich abgeholt«, sagt sie. »Du hast es gewußt.«
    Er erschrickt, als ihm klar wird, welcher Vorwurf in ihren Worten steckt. Er möchte ihr erklären, daß keine Zeit mehr war, die Eltern zu warnen, aber im Augenblick wird sie keine Gründe gelten lassen.
    »Hast du sie denn überhaupt gesehen?« fragt er.
    »Du hast mich ja nicht gelassen«, sagt sie und fängt endlich an zu weinen.
    Er sagt, daß er sie auch nicht gesehen hat, bis zum Ende des Zuges nicht, vielleicht haben sie die Gefahr rechtzeitig gespürt und sich in Sicherheit gebracht. Er weiß, wie lächerlich das ist, nach drei Worten merkt er, wie nutzlos er lügt, aber er bringt die Sätze zu Ende wie aufgezogen.
    »Du siehst sie bestimmt wieder«, sagt er noch. »Jakob hat gesagt …«
    »Du lügst!« schreit sie. »Ihr lügt alle! Ihr redet und redet, und nichts ändert sich!«
    Sie springt auf und will hinausrennen, Mischa bekommt sie erst zu fassen, als sie die Tür schon aufgerissen hat. Im Flur richtet sich die Frau auf, aus Schlüssellochhöhe. Sie fragt:
    »Kann ich wirklich nicht helfen?«
    »Zum Donnerwetter, nein!« schreit Mischa, jetzt schreit er auch.
    Die Frau zieht sich beleidigt zurück, man darf annehmen, daß ihre Hilfsbereitschaft auf ewig erloschen ist, zumindest für diesen Schreihals.

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