Jakobsweg - Ein Weg nicht nur für Gscheitles
Finisterre und für meine noch zu organisierende Heimreise lediglich noch weitere vier Wochen zur Verfügung standen, wenn ich noch eine Urlaubswoche zuhause verbringen wollte. Es wird jetzt hoffentlich doch noch keine Torschlusspanik bei mir ausbrechen? Seither hatte ich meine Tagesetappen immer nach Gutdünken anhand meines „Outdoor-Reiseführers“ gewählt und diese zuweilen auch spontan abgeändert. Sollte nunmehr die arithmetisch berechnete Tageskilometerdurchschnittszahl für den Rest meiner Pilgerschaft maßgebend werden? Konnte und wollte ich dieses überhaupt? Ich war im Zwiespalt! Dieser Gedankengang könnte möglicherweise das Ende meiner zeitlosen Ära einläuten. Bis heute war mein einziger Bezug zur kalendarischen Zeitrechnung mein jeweiliger Tagesbericht und dies nur im Hinblick auf den jeweiligen Tag. So wurde mir immer erst beim Verfassen meiner Tageseintragungen kurz ins Bewusstsein gerufen, dass z.B. morgen Sonntag sein müsste. Ansonsten hatten die Wochentage keinerlei Bedeutung für mich. Ich entsann mich nicht einmal an sie; geschweige denn hätte ich das Datum sagen können. Ich war kalendarisch zeitfrei gewesen; nur auf den Weg und die mit ihm sich langsam verändernde Landschaft sowie auf mich selbst konzentriert. Ich sinnierte und sinnierte und trank dabei unzählige Cokes, bis ich beiläufig auf meine Uhr schaute und erschrocken feststellen musste, dass es bereits 21.00 Uhr geschlagen hatte. Nun war’s aber an der Zeit, mich aufzumachen.
Im Schneckentempo ging’s in Richtung León. Das Vermaledeite in dieser Ebene ist, dass man in der Ferne eine Ortschaft sieht, darauf zuläuft und zuläuft und läuft und man dennoch nicht den Eindruck gewinnen kann, man habe sich ihr genähert. Und wenn man sich umdreht und zurück zu seinem Ausgangspunkt blickt, hat man gleichfalls das Gefühl, man habe sich von ihm noch nicht weiter entfernt.
In Puente de Villarente las ich wider Erwarten auf bunt blinkenden Lettern: Zimmervermietung. Als ob meinem sehnlichsten Wunsche Gott und seine Heiligen unaufgefordert erfüllen wollten, war noch ein Zimmer mit Nasszelle frei, so dass ich nach heutigen 13 Tageskilometern um 22.30 Uhr versorgt den Tag in großer Dankbarkeit beschließen konnte.
Mittwoch, den 02.06.:
Den Vormittag verplauderte ich mit Karl, einem in Köln lebenden, zur Zeit arbeitslosen, baskischen Technikingenieur, den ich beim Frühstück kennen gelernt hatte. Er war auf der Rückwanderschaft von Compostela nach Lourdes und konnte daher sehr viel über den mir noch bevorstehenden Weg sagen sowie mir wertvolle Tipps für meine weitere Reise geben. Für mich war das lange, auf Deutsch geführte Gespräch angenehm. U.a. erklärte er mir, dass von den Spaniern die Menschen, die sich auf dem Weg nach Santiago de Compostela befinden „Peregrinos“, diejenigen, die sich von Compostela nach Rom begeben „Romaneros“, und diejenigen, die sich von Santiago de Compostela auf den Weg nach Jerusalem machten „Palermos“ genannt würden. Seine Pilgerschaft würde er zum Dank für die Genesung seiner krebskranken Mutter durchführen. Da er derzeit mittellos war, steckte ich ihm ein paar Euros zur Überbrückung des heutigen Tages zu. Anscheinend hatte ich dieses für Dritte zu offenkundig getan, so dass er sich genötigt sah, mich auf die für ihn peinliche Situation zwar leise jedoch bestimmend ausdrücklich hinzuweisen. Meine Unterstützung empfand ich als dem Geiste meiner Jakobspilgerschaft angemessen. Nach einer kurzen freundschaftlichen Umarmung trennten wir uns.
Beim Gehen warf sich mir die Frage auf, ob ich denn demütig geworden war. Nicht das Vorliegen einer angelernten und anerzogenen Demut sondern meinen augenblicklich seelischen Zustand galt es zu ergründen. Vermag Betteln vielleicht ebenso wie hierauf Geben Demut auszudrücken? Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr entschwand mein Empfinden, bis ich letztendlich wieder bei meinen Schmerzen, dem Weg und dem Anblick der trostlosen Landschaft angelangt war. Gedankenlos erreichte ich nach 13 km völlig erschöpft León und bezog dort ein First-Class-Hotel-Zimmer mit Badewanne für zwei Nächte.
Wird meine Pilgerschaft erfolgreich sein, begann ich mich allmählich zu fragen. Außer Frage stand unzweifelhaft das göttliche Gebot, meine Gesundheit nicht meinem Ehrgeiz zu opfern. Sollte meine Pilgerschaft misslingen, werde ich unverzüglich heimreisen. Santiago de Compostela mit samt seinem Jakobuskult kann mir dann
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