Jakobsweg - Ein Weg nicht nur für Gscheitles
Schmerzen im rechten Oberschenkelinnenbereich empfand ich plötzlich nicht mehr so intensiv. Auch war mein ständiges Grübeln verschwunden, ob meine Schmerzen möglicherweise davon herrühren, dass mein rechter Fuß vielleicht doch kürzer als mein linker sein könnte. Mein Interesse galt einzig der Hoffnung auf ein Wiederauffinden meiner Sehhilfe.
Ich hätte mir denken können, dass jeglicher unbeaufsichtigte Wertgegenstand sofort seinen Besitzer auch dann wechselt, wenn die Verwertbarkeit dessen für Dritte einem selbst nicht gleich einleuchtet. Auch eine Nachfrage bei der Kathedraleninformation ergab nichts Erfreulicheres. In der Seitenkapelle der Kathedrale wurde gerade in Litaneiform gebetet. Wage hoffend, dass vielleicht ein Stoßgebet zum Auffinden meiner Brille beitragen könnte, setzte ich mich eine Zeitlang hinzu. Die monotone Litanei wirkte beruhigend auf mich. Meine Brille fand ich dennoch nicht. Nun, so musste eben das Auge meines Automatikphotoapparates künftig für meine Erinnerungen zuhause scharf sehen.
Heiliger Jakobus! Der Weg zu Dir ist nicht nur dornig und steinig sondern auch äußerst verworren! Du willst wohl, dass man als Bettler zu Dir kommt!
Da mein Bedarf an der Kultur Leóns für heute gedeckt war, begab ich mich zurück zum Hotel. Ähnliches wie die wunderschönen Straßenwirtschaften an den zahlreich hübschen Plätzen konnte ich auch anderen Orts später noch genießen. Als ich zurückging, musste ich an zahlreichen, gemütlichen Straßenkneipen mit weit offenen Fenstern vorbei und sah darin die in gelöster Atmosphäre sich entspannt unterhaltenden und häufig auflachenden Gäste sowie die über den Theken hängenden, nicht ausgebeinten Schinken. Mein Schmollen verflog. Meine Erinnerung an León sollte nicht durch dieses Missgeschick bestimmend geprägt werden.
So ließ ich mich in einem Straßenlokal an einem kleinen, vom Tourismustrubel verschonten Platze nieder, trank zwei Gläsle Rotwein und bekam dazu kostenlos wie in Spanien üblich zu jeder Bestellung eine Tapa, ein kleiner, feiner, mit jeder Bestellung andersartiger Happen zum Essen. Die Mentalität der Spanier, diese nur nach Lust und Laune zu verzehren, konnte ich mir bis heute nicht angewöhnen. Bei mir war jedes Tapatellerle bzw. Schälchen vor der nächsten Bestellung immer ratzeputz leer gegessen. Der milde Abend, die hektiklose Lebhaftigkeit auf dem Platze, die nette Bedienung, der gute Wein und die beiden schmackhaften Tapas versöhnten mich endgültig mit dem Jakobsweg. Ich konnte mich wieder an meinem Dasein erfreuen.
Freitag, den 04.06.:
Ein kurzer Anflug, ob ich einen zusätzlichen weiteren Schontag einlegen sollte, war angesichts der noch bevorstehenden Wegstrecke schnell verflogen. Aus meiner anfänglichen Begeisterung für den Camino wurde eine Art Pflichtgefühl. Ich wollte mir nicht eingestehen müssen, dass mein so sehnlich gewünschtes Vorhaben meine physischen und psychischen Kräfte übersteigen könnte. Zwar lautet der Werbeslogan „Der Weg ist das Ziel“, jedoch begibt man sich doch nicht auf den Weg, um am Ende das Ziel nicht zu erreichen. Somit gab es für mich nur das Eine, weiterzumarschieren. Meine Jeanshose samt Ledergürtel ließ ich hinsichtlich der sommerlichen Temperaturen und wegen deren Gewicht im Hotelzimmer zurück. Meine zusätzliche Fußsohleneinlage in meinem linken Wanderstiefel nahm ich probeweise heraus, verschmiss sie jedoch nicht.
Vorbei an der Kathedrale über die Basilika San Isidoro, in der ich viele Gläubige in stiller Andacht bei den Reliquien des Heiligen Isidor antraf, ein Bischof von Sevilla im sechsten Jahrhundert nach Christi Geburt, ging’s zum ehemaligen Kloster San Marcos mit seiner aus dem 16. Jahrhundert stammenden, in der für Spanien typisch überreichen Renaissancefassade. Obgleich mein Reiseführer alternativ eine 3,5 km längere und schönere Route empfahl, entschied ich mich für die kürzere entlang viel befahrenen Straßen. Gleichzeitig fiel mir ein, dass ich versäumt hatte, mir von der Hotelrezeption die Tagesstempel geben zu lassen. Bevor ich mich zur Mittagspause in einer Bar in La Virgen del Camino begab, war ich entzückt über die am Wegesrand in den Hügel gebauten Erdhäuser. Bei sommerlicher Gluthitze dürften sie ihren Bewohnern eine angenehm kühle Raumtemperatur bieten.
Gewohnheitsmäßig zog ich als erstes am Zigarettenautomat der Bar eine Schachtel „Nobel“, obgleich ich doch mit dem Rauchen aufhören wollte, um
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