Jakobsweg - Ein Weg nicht nur für Gscheitles
Wunschvorstellung sondern eine knallhart verinnerlichte Wahrnehmung.
Es machte Spaß, auf der wenig befahrenen Landstraße zu marschieren. Allzu oft hatte ich zuhause von Enttäuschungen darüber gelesen, dass der Camino häufig unmittelbar neben Straßen verläuft. Dieses war für mich schon immer die logische Konsequenz dessen, dass der Camino der mittelalterliche Weg, die damalige Straße also, war, die in der Neuzeit lediglich ausgebaut wurde. Möchte man auf
dem historischen Jakobswege pilgern, muss man nun einmal dieses Manko hinnehmen!
Das Panorama der Leónesischen Berge und die sich vor mir ausbreitende Hügellandschaft mit ihrem heideähnlichen Bewuchs erfreuten mich. Obgleich die Sonne noch schien, einzelne Regentropfen jedoch hernieder fielen und aus der Ferne kräftiges Donnergegrolle zu vernehmen war, hielt ich es für angebracht, in El Ganso das hiesige Refugio aufzusuchen. Ich hatte nicht zu hoffen gewagt, dass das Refugio mir zur Verfügungen stehen würde.
Als ich vor dem Gebäude mit dem provisorischen Hinweisschild „Refugio“ stand, wollte ich schon umkehren und mich nach Rabanal del Camino begeben. Unkontrolliert sollte dieses jedoch nicht geschehen. Nach Türklinkendruck eröffnete sich mir ein Anblick, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Einige der Stockbettliegen waren mit Schlafsäcken oder anderen Wanderutensilien bereits in Beschlag genommen, ohne dass ich deren Besitzer ausmachen konnte.
Beim Essen meines Käsebrotes und Trinken von Brunnenwasser auf dem Bänkle an der Refugioaußenwand, bei Sonnenschein und gleichzeitig leichtem Regen angesichts einer unverstädterten Landschaft wurde in mir ein urbäuerliches Lebensgefühl erweckt. Der Guten-Appetit-Gruß einer sehr alten, aus der Weidelandschaft daher kommenden, dunkel gekleideten Oma, die in ihrer rechten Hand locker einen gelben Wiesenblumenstrauß hin und her schwenkte verstärkte noch mein romantisches Empfinden, zumal mir heute die Errungenschaften unserer Zivilisation wie Duschen oder Toiletten nicht zur Verfügung standen. Wie die in der Nähe blökenden Schafe musste man die Notdurft in der Pampa verrichten. Die Katzenwäsche konnte am nahen Brunnen getätigt werden.
Wie sich herausstellte, teilte ich den ansonsten sauberen Schlafsaal mit zwei älteren Pärchen aus Flamen, die gleichfalls wie ich am 07. Mai in Saint-Jean-Pied de Port gestartet waren. Die Gemeinsamkeit und das kritiklose Hinnehmen der Unzulänglichkeiten dieses Refugios bedingten sogleich eine zwischenmenschliche Vertrautheit, ohne dass diese als intim bezeichnet hätte werden können. Wir alle waren froh und zufrieden, dass uns die Bürger von El Ganso diese gepflegte Notunterkunft für die Nacht kostenlos bereitgestellt hatten.
Mittwoch, den 09.06.:
Hoch oben vom Kirchturm El Gansos herab begrüßte mich ein dort nistendes Storchenpärchen zu meinem frühmorgendlichen Spaziergang nach Rabanal del Camino. Als ich um 9.00 Uhr vor dem örtlichen Lebensmittelladen mein Frühstück einnahm, kam ich ins Grübeln, ob mir das spirituelle Erlebnis im hiesigen Kloster mehr bedeutete als ein Vorankommen auf dem Jakobsweg. Zu bedenken galt es auch, dass Rabanal del Camino die letzte Station vor dem Aufstieg zum Monte Irago und damit vor der strapaziösen Leónesischen Bergwelt war. Die Berge von León bilden eine natürliche Barriere zwischen den Landstrichen der Maragatería und des Bierzo. Ich entschied mich gegen einen Weitermarsch. Meine Entscheidung war auch von meinem gegenwärtigen, für mich dubiosen Gesundheitszustand mitbeeinflusst, wonach ich seit León nicht nur nicht gut einschlafen konnte sondern auch nachts mit einem schweißgebadeten Kopf aufwachte, während mein übriger Körper von einem Schweißausbruch verschont blieb. Einen fieberhaften Infekt oder einen Sonnenstich schloss meine Selbstdiagnose aus. Ich durfte folglich dessen meine körperliche Ausdauerfähigkeit nicht überbeanspruchen, wollte ich in Santiago de Compostela per pedes doch noch ankommen. So verblieb es bei meinem einschließlich der letzten beiden Tage erzielten blamablen Pensum von insgesamt 21 km.
Den Vormittag befasste ich mich mit meinem Tagesbericht und den Mittag über mit einem netten, lustigen Gespräch mit einem jungen, sportlich wirkenden österreichisch-norddeutschen Wanderpärchen, das sich zu mir im Restaurant gleichfalls zum Mittagstisch niedergelassen hatte. Anscheinend hatte sich die Österreicherin den Norddeutschen in der Hoffnung gekrallt, dass
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