Jakobsweg - Ein Weg nicht nur für Gscheitles
Santiagos ausmachen, vor dem die Gläubigen Opferkerzen anzünden konnten. In der vollbesetzten Kirche entstand bei mir eine Spannung wie vor einer Kino- oder Theatervorstellung. War ich doch zuhause gewohnt, dass die Vesper der Mönche wie im Kloster Beuron oder Bad Wimpfen wuchtig abgehalten wurden.
Genauso spärlich wie die Kirchenausstattung war auch die Vesper selbst. Anstelle eines kraftvoll vorgetragenen Mönchsgesanges trat ein völlig dissonanter Gemeindegesang. Mein Vordermann schien sein völlig unharmonisches Mitsingen als für andere zumutbar anzusehen. Jedenfalls stimmte er immer in den gregorianischen Gesang der Gemeinde unbeirrbar und lautstark mit ein. Und dennoch berührte mich diese Vesper auf das Angenehmste. Diese Schlichtheit und Ärmlichkeit war weit entfernt von einer Erbärmlichkeit. Im Gegenteil, sie führte mir erst vor Augen, dass zur körperlichen Mattigkeit auch ein niederes seelisches Moment zu gehören hat, um mich auf meiner Pilgerschaft Gott in der ihm gebührenden Demut hingeben zu können.
Beim Verlassen der Kirche entdeckte ich ein Schild „Refugio Gaucelmo“. Ich war also einem Schlepper auf den Leim gegangen. Meine kleine Refugiovisite erweckte in mir allerdings kein Gefühl des Bedauerns, nicht hier abgestiegen zu sein. Möglicherweise wurde ich erst durch die erlebte Clubatmosphäre in der Albergue del Pilar für die wunderschöne Schlichtheit dieser Vesper des hiesigen Klosters empfänglich. Den Gefühlssprung hatte ich bei den nach einer längeren Pause sich anschließenden Kompleten vollzogen. Da nicht nur ich ein Gewohnheitsmensch zu sein scheine sondern auch mein vorgenannter Spezi, setzte sich jeder wieder auf seinen vorherigen Platz. Dieses Mal empfand ich seine Singerei allerdings nicht mehr so stark als störend. Die gregorianischen Gesänge mit dem anschließenden Pilgersegen bewirkten in mir eine innere Ruhe und einen inneren Frieden, wie ich sie auf meiner Reise schon lange nicht mehr empfunden hatte. Anscheinend erging es anderen ebenso. Beim Rückweg von der Kirche zur Albergue sangen sie immer noch die gregorianischen Weisen vor sich hin, was die himmlische Stimmung unter uns Pilgern noch eine Zeit lang anhalten ließ. Ich konnte seit langem wieder sogleich ein- und durchschlafen.
Donnerstag, den 10.06.:
Nach einem wunderbaren Schlaf machte ich mich ein wenig ungeduldig an den Aufstieg in die Leónesischen Berge. Ich fühlte mich physisch und psychisch wieder fitt. Meine anfängliche Schaffenskraft hatte wieder Besitz von mir ergriffen. Ich freute mich auf die bevorstehende Bergwelt und wurde nicht enttäuscht.
Im einst verlassenen, nun wieder in Erwartung des an den Pilgern bzw. Wandertouristen zu Verdienenden erneut zum Leben erwachten Bergdorf Foncebadön legte ich eine Zwischenrast ein. Selbst der Innenraum der kleinen Dorfkirche war einfach und zweckmäßig instand gesetzt. Der weitere Anstieg zur Passhöhe mit dem Eisenkreuz, einem fünf Meter hohen Eichenstamm mit einer eisernen Kreuzspitze auf einem Steinhaufen, war ruck, zuck getan. Beim Nähern fiel mir ein, dass ich entsprechend einer tausendjährigen, bereits vor der Romanisierung bestehenden Wandertradition gleichfalls einen Stein auf den Steinhaufen ablegen sollte. Auf dem Weg entdeckte ich ein kleines aber feines Steinchen, das ich am Fuß des Eisenkreuzes neben einem beschrifteten Grußstein hinlegte.
Welch einen Spaß machte es doch, bei Sonnenschein und einem leichten Wind durch die Berge zu wandern. Jedem Schritt folgte ein entschädigender Blick in die herrliche Landschaft. Der schmale Bergpfad führte vorbei an der provisorisch als Herberge von einem Deutschen, der hier hängen geblieben ist, geführten Berghütte im toten und doch schön gelegenen Bergdorf Manjarín. An einem bezaubernden Plätzle ließ ich mich kurz nieder, um das Bergpanorama in mich aufzusaugen. Ich konnte die Sehnsucht der Romanfigur Heidi nach ihren Schweizer Bergen noch niemals besser als heute verstehen. Im Bergdorf El Acebo auf der anderen Bergmassivseite verschnaufte ich wie andere Wanderer auch in einer rustikalen Bar bei vier Gläsle Bier. Hinsichtlich meines noch ca. 8,5 km entfernten, heutigen Etappenzieles stand ich genauso wenig unter Zeitdruck wie bei meinem Endziel, zumal nach einem Wegweiser in den Ortsruinen Manjaríns Santiago noch ca. 222 Wanderkilometer entfernt sein müsste.
Durch meinen häufigen Gebrauch hatte mein „Outdoor-Reiseführer“ schon seine vordere Umschlagseite
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