James Bond 02 - Leben und sterben lassen (German Edition)
von hundert ganz ähnlichen Einrichtungen auf Treasure Island war. Doch er respektierte die erstaunliche Macht ihrer Eingebungen, und ihr nervöser Anfall beunruhigte ihn.
Der Anblick von Leiters Wagen vertrieb diese Gedanken aus seinem Kopf.
Bond mochte schnelle Autos und fuhr sie gerne. Die meisten amerikanischen Wagen langweilten ihn. Es mangelte ihnen an Persönlichkeit und dem Hauch individueller Kunstfertigkeit, den europäische Autos aufwiesen. Sie waren einfach nur »Fahrzeuge«, die sich in Form und Farbe und sogar beim Klang ihrer Hupen ähnelten. Sie wurden entwickelt, um ein Jahr lang zu funktionieren und dann als Anzahlung für das Modell vom nächsten Jahr herzuhalten. Der Fahrspaß war ihnen mit der Abschaffung der Gangschaltung genommen worden. Stattdessen hatten sie jetzt eine durch Hydraulik unterstützte Lenkung und eine weiche Federung. Jegliche Mühe war ausgebügelt worden, und den engen Kontakt zur Maschine und zur Straße, der einem europäischen Fahrer Können und Nerven abverlangte, gab es nicht mehr. In Bonds Augen waren amerikanische Autos einfach nur käferförmige Autoskooter, in denen man mit einer Hand am Steuer, voll aufgedrehtem Radio und geschlossenen Fenstern herumkurvte, um den Wind draußenzuhalten.
Doch Leiter besaß einen alten Cord, eines der wenigen amerikanischen Autos mit Persönlichkeit, und es munterte Bond auf, in den tief liegenden Fahrgastraum zu steigen und den festen Griff der Gänge sowie das männliche Dröhnen des breiten Auspuffs zu hören. Fünfzehn Jahre alt, überlegte er, und optisch gesehen immer noch eins der modernsten Autos der Welt.
Sie fuhren auf den Damm und über die weite Ausdehnung aus spiegelglattem Wasser, die die dreißig Kilometer lange Insel von der breiten Halbinsel trennte, auf der sich Saint Petersburg und seine Vororte befanden.
Schon als sie auf ihrem Weg durch die Stadt zu den Jachtanlegestellen und den großen Hotels am Haupthafen die Central Avenue entlangfuhren, gewann Bond einen Eindruck von der Atmosphäre, die diese Stadt zum Seniorenheim von Amerika machte. Jeder auf dem Bürgersteig hatte weißes oder weißblaues Haar, und die berühmten Bürgersteigsofas, die Solitaire ihm beschrieben hatte, waren voller alter Leute, die dicht gedrängt darauf saßen wie die Stare auf dem Trafalgar Square.
Bond bemerkte die kleinen, grimmigen Münder der Frauen, in deren Brillen sich funkelnd die Sonne spiegelte, und die sehnigen, eingefallenen Brüste und Arme der Männer, die aufgrund der bunten Hemden, die sie trugen, der Sonne ausgesetzt waren. Die flaumigen, spärlichen Haarknäuel auf den Köpfen der Frauen, durch die die rosafarbene Kopfhaut schimmerte. Die knochigen kahlen Schädel der Männer. Und überall fand sich geschwätzige Kameradschaft: Neuigkeiten und Tratsch wurden ausgetauscht, Termine für das Shuffleboard und den Bridgetisch ausgemacht, Briefe von Kindern und Enkeln herumgereicht und über die Preise in den Läden und den Motels die Nase gerümpft.
Man musste sich nicht unmittelbar unter ihnen befinden, um all das zu hören. Es wurde durch das Nicken und Wackeln der flaumigen weißen Köpfe und die freundlich gemeinten Klapse auf die Rücken der alten Kahlköpfe verdeutlicht.
»Bei diesem Anblick will man doch am liebsten gleich in den Sarg steigen und den Deckel zuziehen«, kommentierte Leiter Bonds entsetzte Ausrufe. »Warten Sie nur, bis wir aussteigen und laufen. Wenn die Ihren Schatten hinter Ihnen auf dem Bürgersteig sehen, springen sie zur Seite, als ob Sie der Hauptkassierer wären, der gekommen ist, um ihnen in der Bank über die Schulter zu schauen. Es ist schrecklich. Das erinnert mich an den Bankangestellten, der mittags unerwartet nach Hause kam und seinen Chef im Bett mit seiner Frau vorfand. Er eilte in die Buchhaltung zurück und sagte zu seinen Kollegen: ‚Verdammt, Jungs, er hätte mich fast erwischt!‘«
Bond lachte.
»Man kann die goldenen Uhren in ihren Taschen förmlich ticken hören«, sagte Leiter. »Die Stadt ist voll von Beerdigungsunternehmen und Pfandleiern mit Regalen voller Golduhren und Freimaurerringen und Gagatsteinen und Medaillons mit Haarlocken. Allein der Gedanke lässt einen erschaudern. Warten Sie nur, bis Sie ins Aunt Milly’s gehen und sehen, wie sie alle ihren Hackbraten und ihre Cheeseburger mümmeln und versuchen, am Leben zu bleiben, bis sie neunzig sind. Dieser Anblick wird Sie zu Tode ängstigen. Aber hier sind nicht alle alt. Sehen Sie sich mal diese Reklametafel
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