James Bond 05 - Liebesgrüße aus Moskau (German Edition)
das Tageslicht verschwunden war. Es schien ihm eine Stadt zu sein, die im Laufe der Jahrhunderte so sehr mit Blut und Gewalt getränkt worden war, dass in der Nacht die Geister ihrer Toten die einzigen Einwohner waren. Sein Instinkt sagte ihm, wie schon vielen anderen Reisenden zuvor, dass er sich glücklich schätzen konnte, wenn er es lebend aus Istanbul herausschaffen würde.
Sie gelangten an eine enge stinkende Gasse, die rechts von ihnen steil den Hügel hinunterführte. Kerim bog hinein und ging vorsichtig über das Kopfsteinpflaster. »Passen Sie auf, wo Sie hintreten«, sagte er leise. »Unrat ist noch ein höfliches Wort für das, was mein bezauberndes Volk auf seine Straßen wirft.«
Der Mond schien hell auf den feucht glänzenden Fluss aus Steinen. Bond hielt seinen Mund geschlossen und atmete durch die Nase. Er setzte mit gebeugten Knien einen Fuß vor den anderen, als ob er einen schneebedeckten Abhang hinuntersteigen würde. Er dachte an sein Bett im Hotel und an die bequemen Sitze des Wagens unter den süß duftenden Limettenbäumen, und fragte sich, wie viele weitere Arten entsetzlichen Gestanks er durch seinen aktuellen Auftrag noch kennenlernen würde.
Am Ende der Gasse blieben sie stehen. Kerim drehte sich mit einem breiten Grinsen zu ihm um. Er deutete nach oben auf ein großes dunkles Gebäude. »Das ist die Moschee des Sultans Ahmet. Dort gibt es berühmte byzantinische Fresken. Es tut mir leid, dass ich keine Zeit habe, Ihnen mehr Schönheiten meines Landes zu zeigen.« Ohne auf Bonds Antwort zu warten, bog er nach rechts auf einen staubigen Boulevard ab, der von billigen Läden gesäumt war. Dieser Boulevard fiel zu der entfernt glitzernden Fläche des Marmarameers ab. Zehn Minuten lang gingen sie schweigend weiter. Dann wurde Kerim langsamer und signalisierte Bond, dass auch er sich in die Schatten zurückziehen sollte.
»Das wird eine einfache Operation«, sagte er leise. »Hier unten neben den Eisenbahnschienen lebt Krilencu.« Er deutete auf eine Ansammlung roter und grüner Lichter am Ende des Boulevards. »Er versteckt sich in einem Schuppen hinter einer Plakatwand. Es gibt einen Vordereingang und eine Geheimtür in der Werbetafel. Meine beiden Männer werden vorne hineingehen. Er wird versuchen, durch die Plakatwand zu entkommen. Dann erschieße ich ihn. Alles klar?«
»Wenn Sie das sagen.«
Sie gingen weiter den Boulevard entlang und hielten sich dabei eng an die Mauer. Nach zehn Minuten näherten sie sich einer sechs Meter hohen Reklametafel am Ende der Straße. Der Mond befand sich hinter dem Werbeplakat und dem Gesicht darauf, das im Schatten lag. Kerim setzte jetzt noch vorsichtiger einen Fuß vor den anderen. Etwa hundert Meter von der Reklamewand entfernt endete der Schatten, und der Mond strahlte hell auf die davorliegende Kreuzung. Kerim blieb im letzten dunklen Hauseingang stehen und positionierte Bond direkt vor sich. »Jetzt heißt es warten«, flüsterte er. Bond hörte, wie Kerim hinter ihm an etwas herumfummelte. Der Lederkoffer wurde geöffnet, und ein schweres, dünnes Stahlrohr von etwa einem halben Meter Länge wurde ihm in die Hand gedrückt. »Ein Zielfernrohr, aus Deutschland«, flüsterte Kerim. »Infrarotlinse. Damit kann man im Dunkeln sehen. Schauen Sie sich mal diese große Filmwerbung dort drüben an. Dieses Gesicht. Direkt unter der Nase. Dort sehen Sie die Umrisse einer Geheimtür. In einer Linie mit dem Stellwerk.«
Bond stützte sich gegen den Türpfosten und hob das Zielfernrohr an sein rechtes Auge. Dann richtete er es auf den großen dunklen Fleck gegenüber. Langsam wurde das Schwarz zu Grau. Die riesigen Umrisse eines Frauengesichts und ein paar Buchstaben erschienen. Jetzt konnte Bond lesen, was dort stand: NIYAGARA. MARYLIN MONROE VE JOSEPH COTTON und darunter Werbung für die Komödie BONZO FUTBOLOU. Bond bewegte das Fernrohr ein wenig nach unten auf die Hügel von Marilyn Monroes Haar, der Klippe ihrer Stirn und an der sechzig Zentimeter langen Nase hinunter zu den höhlenartigen Nasenlöchern. Man konnte im Plakat ein schwaches Rechteck erkennen. Es begann unter der Nase, ging in die großen verlockenden Rundungen der Lippen über und war etwa neunzig Zentimeter breit. Von dort war es ein recht tiefer Sprung bis zum Boden.
Bond hörte hinter sich mehrfach leises Klicken. Kerim hielt seinen Spazierstock nach vorne. Wie Bond vermutet hatte, handelte es sich um ein Gewehr. Die Gummispitze war durch einen Schalldämpfer ersetzt
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