James Bond 06 - Dr. No (German Edition)
möglichst wenig von dem fischigen Ammoniakgestank mitzubekommen. Er musste um jeden Preis das Ende des Förderbands erreichen, bevor die Wachen begriffen, was das warnende Tönen der Schiffssirene und der nicht beantwortete Telefonanruf bedeuteten, und sie ihre Angst, auf diese Seite des Berges zu gehen, überwanden.
Bond stolperte durch den stinkenden Tunnel. Wie weit mochte es sein? Zweihundert Meter? Und was dann? Ihm blieb nichts anderes übrig, als aus der Tunnelöffnung zu stürmen und das Feuer zu eröffnen – eine Panik auszulösen und das Beste zu hoffen. Er würde sich einen der Männer schnappen und aus ihm herausbekommen, wo sich Honey befand. Was dann? Was würde er vorfinden, wenn er die Stelle am Berghang erreichte? Was würde noch von ihr übrig sein?
Bond lief schneller, hielt den Kopf gesenkt, um die schmalen Planken unter seinen Füßen im Auge zu behalten, und fragte sich, was passieren würde, wenn er stolperte oder ausrutschte und in den vorbeirauschenden Fluss aus Guanostaub fiel. Würde er in der Lage sein, wieder von dem Förderband herunterzukommen, oder würde er davongetragen werden, um schließlich auf Doktor Nos Grabhügel zu landen?
Als Bonds Kopf plötzlich gegen etwas Weiches stieß und er die Hände an seiner Kehle spürte, war es zu spät, um an den Revolver zu denken. Seine einzige Reaktion bestand darin, sich auf den Boden zu werfen und nach den Beinen zu greifen. Die Beine gaben unter seiner Schulter nach, und ein schriller Schrei ertönte, als der Körper auf dem Rücken landete.
Bond hatte gerade zu einem Griff angesetzt, mit dem er seinen Angreifer zur Seite und auf das Förderband schleudern würde, als ihn die Tonlage des Schreis und das geringe Gewicht sowie das weiche Gefühl des Körpers innehalten ließen.
Das konnte nicht sein!
Wie zur Antwort bissen scharfe Zähne tief in seine rechte Wade, und ein Ellbogen stieß mit voller Wucht in seine Weichteile.
Bond heulte vor Schmerz auf. Er versuchte, sich zur Seite zu winden, um sich zu schützen, doch selbst als er »Honey!« rief, traf ihn der Ellbogen erneut.
Bond stieß gequält die Luft durch die Zähne aus. Es gab nur eine Möglichkeit, sie aufzuhalten, ohne sie auf das Förderband zu werfen. Er packte ihren Knöchel und hievte sich auf die Knie. Dann stand er auf und hielt sie an einem Bein über seine Schulter geschwungen. Ihr anderer Fuß trat gegen seinen Kopf, jedoch nur halbherzig, als ob sie gemerkt hätte, dass etwas nicht stimmte.
»Hör auf, Honey! Ich bin’s!«
Über den Lärm des Förderbands drang Bonds Stimme an ihre Ohren. Er hörte, wie sie von irgendwo in der Nähe des Bodens »James!« rief und spürte, wie ihre Hände nach seinen Beinen griffen. »James, James!«
Bond ließ sie langsam herunter. Er drehte sich um, kniete sich hin, legte die Arme um sie und drückte sie fest an sich. »Oh, Honey, Honey. Geht es dir gut?« Verzweifelt und ungläubig presste er sie noch enger an sich.
»Ja, James! Oh ja!« Er spürte ihre Hände auf seinem Rücken und in seinem Haar. »Oh, James, mein Liebling!« Sie sackte schluchzend gegen ihn.
»Ist schon gut, Honey.« Bond strich ihr Haar zurück. »Doktor No ist tot. Aber jetzt müssen wir von hier verschwinden. Wir müssen irgendwie von hier weg. Komm! Wie kommen wir aus diesem Tunnel raus? Wie bist du hierhergekommen? Wir müssen uns beeilen!«
Wie aufs Stichwort hielt das Förderband mit einem plötzlichen Ruck an.
Bond zog das Mädchen auf die Beine. Sie trug einen schmutzigen Overall aus schwerem blauem Stoff. Die Ärmel und Hosenbeine waren hochgekrempelt. Der Overall war ihr viel zu groß. Sie sah aus wie ein Mädchen in einem Männerschlafanzug. Außerdem war sie über und über mit weißem Guanostaub bedeckt, abgesehen von ihren Wangen, wo die Tränen ihn weggewaschen hatten. »Gleich dort oben!«, keuchte sie atemlos. »Da ist ein Seitentunnel, der zu den Werkstätten und zur Garage führt. Werden sie uns verfolgen?«
Es blieb keine Zeit für lange Erklärungen. »Komm mit!«, drängte Bond und lief los. Hinter ihm hallten die Schritte ihrer nackten Füße leise in der Stille wider. Sie erreichten die Abzweigung, an der der Seitentunnel in den Fels hineinführte. Aus welcher Richtung würden die Männer kommen? Durch den Seitentunnel oder über den Steg im Haupttunnel? Das Geräusch lauter Stimmen aus dem Seitentunnel beantwortete seine Frage. Bond zerrte das Mädchen ein paar Meter weiter durch den Haupttunnel. Er zog sie ganz nah an
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