James Bond 06 - Dr. No (German Edition)
aus der Dünung ragten. Bond konnte spüren, mit welcher Kraft Quarrel das Paddel durch das Wasser bewegte, während die Wellen am Boot zerrten. Immer wieder stieß Bonds eigenes Paddel auf Felsen, und einmal musste er sich gut festhalten, als das Kanu an einer großen Hirnkoralle hängen blieb, um schließlich mit einem Ruck weiterzugleiten. Dann hatten sie es geschafft. Unter ihrem Boot waren indigofarbene Sandflecken zu sehen, und um sie herum war nur noch das beständige glatte Gefühl tiefen Wassers.
»Okay, Cap’n«, sagte Quarrel leise. Bond legte das Paddel auf den Boden, ging auf ein Knie und setzte sich dann mit dem Rücken zur Ruderbank. Er hörte, wie Quarrels Fingernägel über das Segel kratzten, während er den Stoff auseinanderwickelte, und dann das scharfe Flattern, als es sich im Wind spannte. Es neigte sich leicht. Vom Bug drang ein leises Gurgeln heran. Ein wenig Gischt landete in Bonds Gesicht. Der Fahrtwind war kühl und würde schon bald kalt werden. Bond schlang seine Arme um die Knie. Das harte Holz hinter und unter ihm verursachte ihm bereits Schmerzen. Jetzt wurde ihm klar, dass es eine furchtbar lange und ungemütliche Nacht werden würde.
In der Dunkelheit vor ihnen konnte Bond den Rand der Welt ausmachen. Dann folgte eine Schicht schwarzen Nebels und darüber begannen die Sterne. Zuerst noch spärlich, doch dann breiteten sie sich zu einem dichten, hell funkelnden Teppich aus. Die Milchstraße zog über ihr Boot hinweg. Wie viele Sterne waren es? Bond begann, eine Fingerlänge zu zählen und war schon bald über hundert hinaus. Die Sterne erhellten das Meer zu einer blassgrauen Straße und wölbten sich über die Spitze des Masts hinweg auf den schwarzen Umriss Jamaikas zu. Bond blickte zurück. Hinter Quarrels gebeugter Form sah er die weit entfernte Ansammlung aus Lichtern, die wohl Port Maria darstellte. Sie waren bereits ein paar Kilometer weit draußen. Schon bald würden sie ein Zehntel des Weges zurückgelegt haben, dann ein Viertel, dann die Hälfte. Das würde wahrscheinlich gegen Mitternacht sein, wenn Bond übernehmen würde. Er seufzte, legte seinen Kopf auf die Knie und schloss die Augen.
Er musste eingeschlafen sein, denn er wurde vom Schlag eines Paddels gegen das Boot geweckt. Er hob seinen Arm, um zu zeigen, dass er es gehört hatte, und warf einen Blick auf das selbstleuchtende Ziffernblatt seiner Uhr. Fünfzehn Minuten nach Mitternacht. Steif streckte er seine Beine aus, drehte sich um und kletterte über die Ruderbank.
»Tut mir leid, Quarrel«, sagte er, und es kam ihm seltsam vor, seine Stimme zu hören. »Sie hätten mich schon früher aufwecken sollen.«
»Macht gar nichts, Cap’n«, erwiderte Quarrel und seine Zähne blitzten auf. »Tut Ihnen gut, etwas zu schlafen.«
Vorsichtig schoben sie sich aneinander vorbei. Dann setzte sich Bond ins Heck und nahm das Paddel auf. Das Segel war neben ihm mit einem verbogenen Nagel gesichert. Es flatterte ein wenig. Bond brachte den Bug in den Wind und manövrierte sie so, dass der Nordstern direkt über Quarrels gebeugtem Kopf im Bug stand. Das würde eine Weile Spaß machen. Es gab etwas zu tun.
Die Nacht zeigte keinerlei Veränderung, außer dass sie dunkler und leerer zu werden schien. Der Puls der schlafenden See schien sich verlangsamt zu haben. Die schwere Dünung war länger und das Wellental tiefer. Sie durchquerten eine Stelle mit Meeresleuchten, das Juwelen von Bonds Paddel tropfen ließ, wenn er es aus dem Wasser hob. Wie sicher es war, in diesem lächerlich schutzlosen kleinen Boot durch die Nacht zu gleiten. Wie sanft und freundlich das Meer sein konnte. Ein Schwarm fliegender Fische durchbrach die Oberfläche vor dem Boot und verteilte sich wie Schrapnell. Einige Fische begleiteten das Kanu eine Weile und flogen dabei bis zu zwanzig Meter weit, bevor sie wieder in den Wellen verschwanden. War ein größerer Fisch hinter ihnen her, dachten sie, das Kanu sei ein Fisch, oder wollten sie einfach nur mit ihnen spielen? Bond dachte darüber nach, was in der Tiefe unter dem Boot vor sich ging, an die großen Fische, die umherschwammen, den Hai und den Barrakuda, den Tarpun und den Segelfisch, die Schwärme aus Königsdorschen, Makrelen und Thunfischen, und noch viel weiter darunter, im grauen Zwielicht der großen Tiefen, die phosphoreszierenden knochenlosen Wesen, die niemand je gesehen hatte, die fünfzehn Meter langen Tintenfische mit dreißig Zentimeter großen Augen, die wie Zeppeline umherschwebten, die
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