James Bond 06 - Dr. No (German Edition)
leise: »Aber es besteht ein Unterschied. Die Krabben fressen alles, was sie unterwegs finden. Und momentan, Miss Rider, ‚rennen‘ sie. Sie kommen zu Zehntausenden den Berg hinauf, große rote, orangefarbene und schwarze Wellen von ihnen, die in diesem Augenblick schabend und kratzend über die Felsen über uns eilen. Und heute Nacht werden sie mitten auf ihrem Weg den nackten, an Pflöcke gefesselten Körper einer Frau vorfinden. Es wird ein wahres Festmahl für sie sein, und sie werden die Wärme des Körpers mit ihren Fressscheren fühlen, und eine von ihnen wird den ersten Schnitt mit ihren Kampfklauen vollziehen, und dann … und dann …« Honey stöhnte auf. Ihr Kopf kippte schlaff nach vorne auf ihre Brust. Sie war ohnmächtig geworden. Bonds Körper bäumte sich auf seinem Stuhl auf. Durch zusammengebissene Zähne stieß er eine Salve Flüche aus. Die großen Hände der Wache fühlten sich an seinen Armen wie Feuer an. Er konnte noch nicht einmal die Stuhlbeine auf dem Boden bewegen. Nach einem Augenblick gab er nach. Er wartete, bis sich seine Stimme beruhigt hatte, und grollte dann mit aller Gehässigkeit, die er in seine Worte legen konnte: »Sie Scheißkerl. Dafür werden Sie in der Hölle schmoren.«
Doktor No lächelte dünn. »Mister Bond, ich glaube nicht an die Existenz der Hölle. Aber trösten Sie sich. Vielleicht werden die Krabben mit der Kehle oder am Herzen anfangen. Die Bewegung des Pulses wird sie anziehen. Auf diese Weise wird es nicht allzu lange dauern.« Er sagte einen Satz auf Chinesisch. Die Wache hinter dem Stuhl des Mädchens lehnte sich vor, hob sie hoch, als ob sie ein Kind wäre, und warf ihren reglosen Körper über seine Schulter. Zwischen ihren baumelnden Armen hingen ihre Haare wie ein goldener Wasserfall herunter. Die Wache ging zur Tür, öffnete sie, ging hinaus und schloss die Tür lautlos hinter sich.
Für einen Augenblick herrschte Stille im Zimmer. Bond dachte nur noch an das Messer an seinem Bauch und das Feuerzeug in seiner Achselhöhle. Wie viel Schaden konnte er mit diesen beiden Metallteilen anrichten? Konnte er irgendwie in Reichweite von Doktor No gelangen?
»Sie meinten, Macht sei eine Illusion, Mister Bond«, sagte Doktor No leise. »Möchten Sie Ihre Meinung ändern? Meine Macht, diesen speziellen Tod für das Mädchen zu wählen, ist ganz sicher keine Illusion. Wie dem auch sei, lassen Sie uns mit der Art und Weise Ihres Ablebens fortfahren. Sie hat ebenfalls ihre ungewöhnlichen Aspekte. Sehen Sie, Mister Bond, ich bin an der Anatomie des Mutes interessiert – an der Kraft des menschlichen Körpers, Widrigkeiten zu ertragen. Doch wie misst man die menschliche Fähigkeit, etwas zu ertragen? Wie fertigt man ein Kurvendiagramm des Überlebenswillens, der Schmerztoleranz und des Besiegens der Angst an? Über dieses Problem habe ich sehr lange nachgedacht, und ich glaube, ich habe die Lösung gefunden. Es ist natürlich nur eine grobe und behelfsmäßige Methode, und ich werde erst mit der Zeit mehr darüber erfahren, wenn ich den Test an weiteren Objekten durchführe. Ich habe Sie so gut ich konnte auf das Experiment vorbereitet. Ich habe Ihnen ein Beruhigungsmittel verabreicht, damit Ihr Körper ausgeruht ist, und ich habe Sie mit Nahrung versorgt, damit Sie bei Kräften sind. Zukünftige – wie soll ich sie nennen – Patienten werden die gleichen Vorteile haben. Die Ausgangslage wird für alle gleich sein. Danach wird es eine Frage des Muts und des Durchhaltevermögens des jeweiligen Individuums sein.« Doktor No hielt inne und betrachtete Bonds Gesicht. »Sehen Sie, Mister Bond, ich habe erst kürzlich den Bau eines Hindernisparcours abgeschlossen, bei dem es um Leben und Tod geht. Ich werde Ihnen nicht mehr darüber verraten, da das Überraschungselement einen wesentlichen Bestandteil der Angst darstellt. Die unbekannten Gefahren sind die schlimmsten und zehren demnach am heftigsten an Ihren Mutreserven. Und ich bilde mir etwas darauf ein, dass der Parcours, den Sie bewältigen werden, eine Menge unerwarteter Dinge birgt. Besonders interessant ist die Tatsache, Mister Bond, dass ein Mann mit Ihren körperlichen Eigenschaften mein erster Wettkämpfer sein wird. Es wird höchst interessant sein, zu beobachten, wie weit Sie es in dem Parcours, den ich entwickelt habe, schaffen werden. Sie dürften ein gutes Beispiel abgeben, dem zukünftige Läufer nacheifern können. Ich habe hohe Erwartungen an Sie. Sie sollten es weit schaffen, aber wenn Sie dann
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