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Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Titel: Jamey. Das Kind, das zuviel wußte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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eine Unterredung bat. Von allen Kindern in der Gruppe war er am wenigsten aufgeschlossen, saß bei Diskussionen mit abwesendem Blick herum, sein Gesicht rund und blass, und er sprach nie von sich aus, sondern nur wenn er gefragt wurde, und dann antwortete er mit Schulterzucken oder unverständlichem Gemurmel. Manchmal zog er sich aus dem Gruppengeschehen zurück, las einen Lyrikband, während die anderen hochgebildete Gespräche führten. Heute frage ich mich, ob seine Neigung, sich von den anderen abzukapseln, erstes Anzeichen einer späteren dramatischen Entwicklung war.
    Es geschah an einem Freitag, dem Tag, an dem ich immer in der Universität arbeitete. Ich wertete gerade Testbögen aus, als jemand leise und vorsichtig gegen meine Tür klopfte.
    Bis ich an der Tür war und diese geöffnet hatte, war er schon wieder ein paar Schritte zurückgegangen und stand dort gegen die Wand gepresst, als wolle er darin verschwinden. Er war fast dreizehn, aber seine schmächtige Gestalt und sein Kindergesicht ließen ihn eher wie zehn aussehen. Er trug ein rot-weiß gestreiftes Rugbyhemd und schmutzige Jeans und hielt eine Stofftasche mit Büchern umklammert, die er so voll gestopft hatte, dass die Nähte platzten. Sein schwarzes Haar trug er lang, sein Pony war gerade geschnitten wie der von Prinz Eisenherz. Seine Augen waren schieferblau, erinnerten an Heidelbeeren mit Milch, wirkten zu groß in dem kleinen, runden Gesicht und passten nicht zu seinem mageren Körper. Er trat von einem Fuß auf den anderen und blickte auf seine Turnschuhe.
    »Wenn Sie keine Zeit haben, macht’s auch nichts«, sagte er.
    »Ich habe viel Zeit, Jamey, komm nur rein.«
    Er biss auf seiner Unterlippe herum und betrat den Raum, blieb aber steif auf der Stelle stehen. Ich schloss die Tür, lächelte und bot ihm einen Stuhl an. Das Büro war klein, und es gab nicht viele Sitzmöglichkeiten. Hinter dem Schreibtisch stand eine alte, mottenzerfressene grüne Couch, genauso groß wie die von Freud. Ein zerkratzter Stahlrohrsessel stand dahinter. Jamey nahm auf der Couch Platz und hielt fest die Tasche mit den Büchern im Arm. Ich nahm den Sessel und schob ihn ein wenig zurück.
    »Nun, was gibt’s, Jamey?«
    Seine Augen eilten durch das Zimmer, betrachteten alles genau, dann blieben sie auf dem Schreibtisch haften.
    »Werten Sie gerade Untersuchungsergebnisse aus?«
    »Genau.«
    »Kommt irgendwas Interessantes dabei heraus?«
    »Bisher nichts als Zahlen. Es dauert eine Weile, bis man Strukturen erkennen kann, sofern es welche gibt, natürlich.«
    »Finden Sie das Ganze nicht etwas reduktionistisch?«, fragte er.
    »In welcher Hinsicht?«
    Er spielte mit einem Träger seiner Büchertasche: »Ach, wissen Sie, wir werden da die ganze Zeit getestet, es ist, als ob wir nur noch Zahlen wären, und dann sollen die auch noch der Wahrheit auf die Spur kommen.«
    Er lehnte sich mit ernstem Gesicht vor, war plötzlich angespannt. Ich wusste immer noch nicht, weshalb er gekommen war, sicher nicht, um mit mir über Forschungsmethoden zu diskutieren. Bevor er an meine Tür geklopft hatte, musste er allen Mut zusammengenommen haben, dann waren ihm offenbar wieder Zweifel gekommen. Die Welt des Abstrakten war ihm vertraut und gab ihm Sicherheit, war eine Festung, die ihn vor störenden und vielleicht bedrohlichen Gefühlen schützte.
    »Was willst du damit sagen, Jamey?«
    Er hielt mit der einen Hand immer noch die Büchertasche fest, mit der anderen fuchtelte er in der Luft herum.
    »Wenn ich zum Beispiel an IQ-Tests denke - Sie behaupten, die Ergebnisse sagten etwas aus, könnten Genialität, oder was immer wir da haben sollen, genau definieren. Allein der Name der Untersuchung verkürzt die Dinge. ›Projekt 160‹. Als ob jemand, der beim Stanford-Binet-Test keine 160 Punkte erreicht, kein Genie sein könnte! Ich finde das ziemlich schwach. Das Einzige, was die Tests aussagen, ist, wie gut jemand in der Schule sein wird. Diese Tests sind unzuverlässig, beruhen auf Vorurteilen und sind meiner Meinung nach nicht mal in der Vorhersage späterer Leistungen genau, vielleicht erreichen sie dreißig bis vierzig Prozent. Würden Sie auf ein Pferd setzen, das nur jedes dritte Mal ins Ziel läuft? Da kann man ja gleich Telepathie betreiben!«
    »Du hast wohl schon selbst Forschung betrieben?«, sagte ich und unterdrückte ein Lächeln.
    Er nickte ernst. »Wenn Leute etwas mit mir anstellen, möchte ich wissen, was sie da machen. Ich war ein paar Stunden in der Bibliothek

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