Jamey. Das Kind, das zuviel wußte
den Tisch abzuräumen. Ich ging ins Schlafzimmer und zog meine Kleider aus. Ich schlug die Überdecke zurück, legte mich zwischen die Leintücher auf den Rücken. Ein paar Minuten starrte ich an die Decke, dann kam Robin herein und fragte:
»Bist du noch immer wach? Ich muss jetzt weg. Ich komme ungefähr um sieben wieder. Sollen wir vielleicht essen gehen?«
»Gerne.«
»Ich bin ganz wild auf Indianisch. Passt Firnis mit Tandoori-Hühnchen zusammen?«
»Ja, mit dem richtigen Wein geht’s.«
Robin lachte, schüttelte ihr Haar, kam herüber und küsste mich auf die Stirn.
»Also dann bis nachher.«
Nachdem Robin gegangen war, schlief ich mehrere Stunden. Als ich aufwachte, war mir schwindlig, aber nach einer Dusche und einem Glas Orangensaft fühlte ich mich schon wieder wie ein halber Mensch. Ich zog Jeans und ein Polohemd an und ging in mein Arbeitszimmer. Der Schreibtisch war mit Papieren bedeckt. Normalerweise ließ ich keine Dinge liegen, aber ich hatte mich noch nicht wieder daran gewöhnt, zu arbeiten. Vor drei Jahren nämlich, mit dreiunddreißig, hatte ich vorzeitig meine psychotherapeutische Praxis aufgegeben, um nicht vollkommen von der Arbeit gefressen zu werden. Ich hatte vorgehabt, zu gammeln und nur noch von meinen Ersparnissen zu leben, aber das geruhsame Leben war sehr bald zu Ende. Es ereigneten sich nämlich aufregende und sogar blutige Dinge, wie ich sie mir schlimmer nicht hätte vorstellen können. Nachdem ein Jahr vergangen und mein Kiefer mühevoll wiederhergestellt war, begann ich einen Teilzeitjob, ich schrieb regelmäßig Gutachten für das Gericht und übernahm einige nicht allzu schwierige Therapien. Langwierige Fälle nahm ich noch nicht wieder an, aber Beratungen und Gutachten reichten aus, damit ich mich wieder wie ein arbeitender Mensch fühlen konnte.
Ich blieb bis ein Uhr am Schreibtisch, wo ich zwei Gutachten für den Jugendrichter zu Ende schrieb; dann fuhr ich nach Brentwood, um sie tippen, kopieren und verschicken zu lassen. Unterwegs hielt ich an, um ein Sandwich zu essen und ein Bier zu trinken, und während ich auf das Essen wartete, rief ich in Canyon Oaks an. Ich fragte in der Zentrale, ob man inzwischen Jamey Cadmus gefunden hätte, dann wurde ich mit dem Dienst habenden Arzt und schließlich mit Dr. Mainwarings Büro verbunden. Seine Sekretärin sagte, dass er in einer Besprechung sei und ich ihn vor dem späten Nachmittag nicht erreichen könne. Ich gab ihr meine Dienstnummer und bat um Rückruf.
Mein Tisch stand gleich am Fenster, und so beobachtete ich während des Essens, wie Jogger in pfauenfarbenen Anzügen über das Gras liefen. Ich aß nur wenig, zahlte und fuhr nach Hause.
Ich ging wieder ins Arbeitszimmer und schloss einen der Unterschränke im Bücherregal auf, in dem ich die Akten früherer Therapiefälle aufbewahrte. Es dauerte eine Weile, bis ich Jameys Akte gefunden hatte, denn damals hatte ich mein Büro in aller Eile aufgeräumt, und dabei war mir das Register durcheinander geraten.
Ich ließ mich auf dem alten Ledersofa nieder und begann zu lesen. Je mehr Seiten ich umblätterte, desto deutlicher stand mir die Vergangenheit vor Augen. Zuerst wurden vage Erinnerungen wach, aber sie nahmen bald Gestalt an, schließlich stürmten sie auf mich ein wie plötzlich erwachte Gespenster.
Ich lernte Jamey kennen, als ich an einer Versuchsreihe der UCLA {1} teilnahm, bei der hoch begabte Kinder getestet wurden. Die Untersuchungen wurden von einer Wissenschaftlerin geleitet, die der Theorie, nach welcher Hochbegabung immer mit seelischer Krankheit gepaart ist, den Garaus machen wollte. Die Kinder wurden mit schwierigen Aufgaben konfrontiert, die eigentlich erst für ältere gedacht waren: Zehnjährige bekamen College-Aufgaben vorgesetzt, Teenager Promotionsarbeiten. Diese Methode wurde heftig kritisiert, weil sie angeblich die Seelen der Kinder zu sehr strapazierte, aber Sarita Flowers war vom Gegenteil überzeugt. Ihrer Meinung nach wurden begabte Kinder durch Langeweile und Mittelmäßigkeit viel mehr gestresst. Sie sagte immer zu mir: »Der Geist braucht Futter, sonst wird er krank.« Sie war überzeugt davon, dass die Versuchsreihe ihr Recht geben würde, und bat mich, das psychische Wohlbefinden der Kinder zu beobachten. Ich veranstaltete Diskussionsgruppen und machte auch Einzelberatung.
Jamey nahm eine Sonderstellung ein. Ich las die Notizen über unser erstes Gespräch durch. Ich war sehr erstaunt gewesen, als er an meine Tür klopfte und um
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