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Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Titel: Jamey. Das Kind, das zuviel wußte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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bei den Psychologen.« Er sah mich jetzt herausfordernd an. »Psychologie hat nicht viel mit Wissenschaft zu tun, oder?«
    »Es gibt Wissenschaftliches und weniger Wissenschaftliches.«
    »Wissen Sie, was ich glaube? Psychologen, solche wie Dr. Flowers, übersetzen Gedanken in Zahlen, um wissenschaftlicher zu wirken und damit die Leute zu beeindrucken. Wenn man so vorgeht, verpasst man das Wesentliche, die Seele dessen, was man begreifen will.«
    »Das ist gut beobachtet«, sagte ich, »Psychologen diskutieren dieses Problem schon lange.«
    Er schien nicht gehört zu haben, was ich gesagt hatte, und fuhr fort, seine Gedanken zu erläutern, mit einer hellen Kinderstimme.
    »Was ist zum Beispiel mit Kunst oder mit Lyrik? Wie wollen Sie Lyrik messen, an der Zahl der Verse? Dem Versmaß? Daran, wie viele Wörter auf e enden? Kann man so Chatterton oder Shelley oder Keats erklären? Das wäre doch dumm. Aber Psychologen glauben, sie könnten so mit Menschen umgehen und dann auch noch bedeutende Ergebnisse erzielen.«
    Er machte eine Pause, atmete tief und fuhr fort: »Ich habe den Eindruck, dass Dr. Flowers Zahlenfetischistin ist. Sie liebt ihre Computer und Tachistoskope. Am liebsten hätte sie, auch wir wären mechanische Wesen, weil wir dann besser auszurechnen wären. Vielleicht ist das so, weil sie selber ohne Apparate nicht leben kann. Was meinen Sie?«
    »Das ist nur eine Theorie.«
    Er lächelte ernst.
    »Ach, ich vergaß, Sie arbeiten ja zusammen. Klar, dass Sie sie verteidigen müssen.«
    »Keineswegs. Und wenn ihr mit mir redet, ist das vertraulich. Die Testergebnisse werden vom Computer erfasst, aber nicht das, was ihr mir erzählt. Wenn du dich über Dr. Flowers geärgert hast, kannst du ruhig darüber reden.«
    Es dauerte eine Weile, bis er das verdaut hatte.
    »Ich ärgere mich nicht über sie, sie ist halt eine arme Frau. Früher war sie doch eine bekannte Sportlerin oder irgend so was.«
    »Ja, sie war Eiskunstläuferin. Bei der Olympiade’64 gewann sie die Goldmedaille.«
    Er schwieg nachdenklich, und ich merkte, dass es ihm schwer fiel, sich vorzustellen, wie aus Sarita Flowers, der Sportlerin, ein Krüppel geworden war. Als er wieder zu sprechen begann, hatte er feuchte Augen.
    »Es war wohl nicht sehr nett von mir, zu sagen, dass sie Apparate zum Leben braucht.«
    »Sie geht sehr frei mit ihrer Behinderung um«, sagte ich. »Sie würde nicht wollen, dass du so tust, als sei alles normal.«
    »Ja, aber trotzdem, ich rede da von Reduktionismus und habe mit ihr genau dasselbe gemacht, hab behauptet, sie sei ein Apparatefan, nur weil sie auf Krücken geht.«
    Er grub die Nägel der einen Hand in die Innenfläche der anderen.
    »Sei nicht so streng mit dir«, sagte ich freundlich. »Es kommt oft vor, dass man, um unsere komplizierte Welt zu erklären, auf schwierige Fragen einfache Antworten gibt. Du hast ein kritisches Denkvermögen, und du bist auf dem richtigen Weg. Nur Leute, die nicht denken können, werden stur und unbeweglich.«
    Ich hatte ihn offenbar ein wenig getröstet, denn seine Hände entkrampften sich und lagen jetzt locker auf den ausgebleichten Jeans.
    »Das haben Sie sehr gut dargestellt, Dr. Delaware.«
    »Danke, Jamey.«
    »Hm, dürfte ich Sie noch etwas über Dr. Flowers fragen?«
    »Natürlich.«
    »Ich begreife nicht ganz, was mit ihr los ist. Manchmal ist sie ziemlich kräftig, geht fast normal. Letzte Woche ist sie sogar ein paar Stufen allein gegangen. Aber vor ein paar Monaten sah sie furchtbar elend aus. So, als sei sie über Nacht um Jahre gealtert und hätte kaum noch Kraft.«
    »Multiple Sklerose ist eine unberechenbare Krankheit«, erklärte ich ihm, »manchmal sind die Beschwerden größer, manchmal verschwinden sie fast ganz.«
    »Kann man das behandeln?«
    »Nein, leider noch nicht.«
    »Wird es ihr auf Dauer schlechter gehen?«
    »Ja, vielleicht aber auch besser, man kann das nicht vorhersagen.«
    »Das muss ja schrecklich sein, immer mit so einer Zeitbombe zu leben!«
    Ich nickte. »Sie wird deshalb ganz gut damit fertig, weil sie ihre Arbeit mag.«
    Wasser hatte sich in Jameys graublauen Augen gesammelt. Langsam lief ihm eine Träne die Wange herunter. Aber er gewann schnell die Selbstkontrolle wieder und wischte die Träne mit dem Handrücken ab. Dann starrte er auf die kahle ockergelbe Wand gegenüber. Er schwieg eine Weile, dann sprang er auf und warf sich die Büchertasche über die Schulter.
    »Wolltest du noch über etwas anderes reden, Jamey?«
    »Nein«, sagte

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