Jamey. Das Kind, das zuviel wußte
bezeichneten den Autor als den führenden Dichter des englischen 18. Jahrhunderts, speziell der Gotik-Renaissance, und als Hauptvorläufer der Romantik, zu Lebzeiten hatte man den Dichter kaum beachtet oder verschmäht.
Er war eine tragische Gestalt, die zeit ihres Lebens nach Glück und Anerkennung strebte. Vergeblich. Deshalb beging er einen literarischen Betrug. Im Jahr 1768 schrieb er eine Reihe von Gedichten, von denen er behauptete, sie stammten von einem Mönch aus dem 15. Jahrhundert, der Thomas Rowley heiße. Den Namen hatte er auf einem Grabstein im Kirchhof von St. John’s in Bristol gelesen. Die Gedichte von Rowley wurden in der Szene der Literaten wohlwollend aufgenommen. Auf diese Weise erlebte der junge Chatterton doch noch so etwas wie Ruhm aus zweiter Hand, so lange, bis der Betrug aufflog, und er endgültig aus den Dichterkreisen verbannt wurde. Er musste sich mit dem Schreiben von Flugschriften oder Dienstleistungen durchschlagen, oft genug bettelte er um Brot. Als er keinen Penny mehr besaß und auch keinen Kredit mehr bei den Lebensmittelhändlern erhielt, ging er zu einem Apotheker und bat diesen um Hilfe gegen die Ratten in seiner Mansarde. Der Mann gab ihm Arsen. Am 24. August 1770 nahm Chatterton selbst das Gift, er war damals siebzehn Jahre alt.
Als Jamey das nächste Mal Gedichte von Chatterton aufsagte, erzählte ich ihm, was ich über den Dichter herausgefunden hatte. Wir saßen auf dem Beckenrand des Springbrunnens gegenüber vom Psychologischen Institut. Es war ein schöner, warmer Tag, Jamey hatte Schuhe und Socken ausgezogen und ließ das kühle Wasser über seine weißen, knochigen Füße laufen.
»Aha«, sagte er bedrückt, »und was ist daran Besonderes?«
»Gar nichts, du hast mich nur neugierig gemacht, weil du so viel von ihm erzählt hast. Deshalb habe ich mal nachgeschaut, wer er eigentlich war. Ein interessanter Kerl.«
Er rückte von mir weg, starrte aufs Wasser und stieß mit einer Ferse gegen den Beckenrand - so heftig, dass die Haut sich rötete.
»Hast du was, Jamey?«
»Nein, ich hab nichts.«
Ich ließ mehrere Minuten vergehen, bevor ich weitersprach. »Irgendwas ärgert dich doch. Bist du sauer, dass ich mich mit Chatterton beschäftigt habe?«
»Nein.« Er wandte sich entrüstet ab. »Nicht darüber ärgere ich mich. Sie tun immer so, als ob Sie mich verstünden. Sie sind ganz schön selbstsicher! Chatterton war ein Genie - Jamey ist ein Genie. Chatterton ist gescheitert - Jamey ist gescheitert. So einfach ist das. Tatatam, eines passt zum anderen, Sie wollen aus mir einen richtigen Klischee-Krankheitsfall machen.«
Zwei Studenten kamen vorbei. Ihnen fiel der Ärger in Jameys Stimme auf, und sie sahen sich um, er aber bemerkte sie nicht einmal, sondern kaute auf seiner Lippe.
»Jetzt haben Sie wahrscheinlich Angst, dass ich irgendwo Rattengift versteckt habe, stimmt’s?«
»Nein, Jamey, ich habe …«
»Quatsch! Ihr Seelenklempner seid doch alle die Gleichen.« Er kreuzte die Arme über der Brust und starrte wieder aufs Wasser. Seine Ferse begann zu bluten.
Ich versuchte es noch einmal: »Was ich eigentlich sagen wollte, ist, dass ich mich mal mit dir über das Thema Selbstmord unterhalten würde. Aber das hat nichts mit Chatterton zu tun.«
»Wirklich nicht? Womit hat es denn sonst zu tun?«
»Ich sage ja nicht, dass du selbstmordgefährdet bist, trotzdem mache ich mir Sorgen, und ich wäre ein schlechter Psychologe, wenn ich darüber nicht mit dir reden würde. Klar?«
»Na gut, also, spucken Sie’s schon aus!«
Ich wählte sorgfältig meine Worte und sagte dann: »Jeder von uns hat mal Tage, an denen es ihm nicht gut geht. Aber du bist sehr oft in gedrückter Stimmung. Du bist ein Mensch, der anders ist als andere, und ich denke dabei nicht nur an deine große Intelligenz. Du bist einfühlsam, interessierst dich für andere, und du bist fair.« Er machte ein Gesicht, als hätte ich ihm gerade mehrere Hiebe versetzt. »Und trotzdem habe ich den Eindruck, dass du dich nicht besonders gut leiden kannst.«
»Was gibt es an mir, das mir gefallen sollte?«
»Eine ganze Menge, Jamey.«
»Aha.«
»Du hast eine Art, dich selbst schlecht zu machen, die mir Sorgen bereitet. Du verlangst äußerst viel von dir, und wenn du es schaffst, freust du dich nicht über deinen Erfolg, sondern legst immer höhere Maßstäbe an. Nie würdest du zulassen, bei irgendetwas zu versagen. Du bestrafst dich andauernd, indem du dir einredest, du seist nichts
Weitere Kostenlose Bücher