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Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Titel: Jamey. Das Kind, das zuviel wußte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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er ein wenig zu schnell, »weiter war nichts.«
    Er ging zur Tür, ich folgte ihm und legte eine Hand auf seine magere Schulter. Er zitterte wie Espenlaub.
    »Schön, dass du vorbeigekommen bist. Du kannst jederzeit wieder bei mir hereinschauen.«
    »Gerne, vielen Dank.« Er öffnete schwungvoll die Tür und huschte davon, seine Schritte hallten leise wider in dem hohen, gewölbten Flur.
    Drei Wochen später kam er wieder. Er hatte keine Tasche mit Büchern mehr bei sich, sondern ein psychologisches Werk, das er mit zahlreichen Lesezeichen aus Zellstoffpapier versehen hatte. Er ließ sich auf die Couch fallen, blätterte in den Seiten, bis er an eine mit ausgerissenem Papier markierte Stelle kam.
    »Ich wollte Sie etwas über John Watson fragen. Nach dem, was ich hier lese, ist der Mann ein Edelfaschist.«
    Anderthalb Stunden lang diskutierten wir über Behaviorismus. Als ich Hunger bekam, fragte ich ihn, ob er etwas zu essen haben wolle, und er nickte. Wir gingen auf die andere Seite des Campus ins Schnellrestaurant. Während wir Cheeseburger aßen und Limonade tranken, redete er weiter, behandelte systematisch einen Punkt nach dem anderen, polemisierte gegen einzelne Wissenschaftler, als ob sie Feinde seien, die es zu vernichten galt. Er hatte ein geradezu Furcht erregendes Wissen, nannte unendliche Fakten und erfasste die wesentlichen Probleme. Sein Verstand schien ein von seinem kindlichen Körper vollkommen unabhängiges Dasein zu führen, sobald er sprach, vergaß ich sein Alter vollkommen. Seine Fragen prasselten auf mich ein wie Hagelkörner, kaum hatte er eine Antwort erhalten, stellte er schon wieder ein halbes Dutzend neue Fragen. Bald begann ich mich zu fühlen wie ein Batter, der beim Baseball einen wild gewordenen Pitcher vor Augen hat. Er befeuerte mich noch ein paar Minuten mit Fragen, dann hörte er so plötzlich auf, wie er begonnen hatte.
    »So, das ist schön, jetzt verstehe ich’s«, sagte er und lächelte zufrieden.
    »Das freut mich«, antwortete ich und seufzte erschöpft.
    Jamey lud sich den Teller mit Ketchup voll und zermatschte in der feuerroten Soße eine Ladung klitschiger Fritten. Er stopfte sie in den Mund und sagte: »Sie sind ganz schön clever, Dr. Delaware.«
    »Nett, das zu sagen, Jamey.«
    »Haben Sie sich gelangweilt, als Sie zur Schule gingen?«
    »Ziemlich oft. Ich hatte nur wenige Lehrer, bei denen es Spaß machte, die anderen waren einfach viel zu blass.«
    »Die meisten Leute sind so. Ich bin eigentlich nie wirklich in die Schule gegangen. Obwohl Onkel Dwight alles versucht hat. Mit fünf Jahren schickte er mich in den elitären privaten Kindergarten vom Hancock Park.« Er grinste. »Nach drei Tagen meinten die Leute dort, dass meine Anwesenheit« - er ahmte das Gesicht einer strengen Kindergärtnerin nach - »den anderen Kindern schade.«
    »Ich kann es mir vorstellen.«
    »Sie machten Übungen, um lesen zu lernen, sie malten Buchstaben, lernten das Alphabet und lauter solche Sachen. Ich fand das geisttötend und weigerte mich mitzumachen. Sie steckten mich daraufhin allein in eine Ecke, aber ich empfand das nicht als Strafe, denn ich konnte mir dort in Ruhe die schönsten Dinge ausdenken. Zu Hause hatte ich eine alte Taschenbuchausgabe von Steinbecks Die Früchte des Zorns gefunden. Der Umschlag war so interessant, dass ich gleich anfing zu lesen. Es war eigentlich ganz spannend, und so las ich immer weiter, auch nachts, mit der Taschenlampe. Morgens versteckte ich es dann in meiner Brotbüchse und nahm es mit. Während der Frühstückspause las ich ein paar Seiten und immer, wenn sie mich in die Ecke stellten. Nach ungefähr vier Wochen hatte ich das Buch halb durch, aber da entdeckte es eine der Kindergärtnerinnen. Sie riss es mir aus der Hand, aber ich ließ mir das nicht gefallen, sondern boxte und kratzte sie. Es war ein richtiger kleiner Kampf. Danach riefen sie Onkel Dwight an und sagten ihm, ich litte an Hyperaktivität, sei völlig disziplinlos und brauchte dringend eine Therapie. Ich beschimpfte die Frau als Diebin und sagte, sie unterdrücke mich genau wie die Arbeiter auf den Feldern. Ihnen fielen die Unterkiefer herunter, sie sahen aus wie Roboter, denen man plötzlich den Strom abgedreht hat. Dann hielt sie mir das Buch unter die Nase und sagte: ›Lies!‹ Sie sagte das wie ein Nazi-Sturmbannführer, der einem Gefangenen befiehlt zu marschieren. Also las ich ein paar Sätze, bis sie mich aufforderte aufzuhören. Von dem Tag an brauchte Meister Cadmus

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