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Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Titel: Jamey. Das Kind, das zuviel wußte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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entschieden, weil ich die Erfolgschancen für gering hielt. Er war zwar durcheinander, sprach aber noch, gelegentlich sogar eindrucksvoll. Ein Psychiater, der mit ihm auch in einer schlechten Phase geredet hätte, würde fälschlicherweise annehmen, dass Jamey simuliert. Wenn ein Fall so bekannt ist, neigen Richter dazu, kein Risiko einzugehen; wenige haben den Schneid, die Proteste und das Geschrei der Öffentlichkeit zu ertragen, womit sie rechnen müssen, wenn sie einem Antrag auf Terminverschiebung stattgeben. Im Moment jedoch bin ich mir nicht mehr so sicher. Wenn er derart desorientiert bleibt oder sein Zustand sich weiter verschlechtert, wird möglicherweise sogar der Psychiater der Staatsanwaltschaft seine Verhandlungsunfähigkeit einsehen. Was meinen Sie dazu?«
    »Haben Sie schon einmal den Verdacht gehabt, dass er simuliert?«
    Er schnitt sich gerade wieder ein Stück Fleisch ab, aber meine Frage veranlasste ihn, Messer und Gabel ruhen zu lassen und aufzublicken.
    »Nein, wirklich nicht. Ich weiß, dass er sehr krank ist.«
    »Aber doch nicht so krank, dass er nicht acht Morde begehen konnte, die eine sorgfältige Planung erforderten.«
    Er legte sein Besteck nieder.
    »Sie kommen zum Kern der Sache, Doktor. Ich schätze das. Ja, Sie haben Recht mit der Frage. Wir haben es nicht mit einem Mörder im Blutrausch zu tun; alle Taten wurden mit einer perversen Sorgfalt im Detail ausgeführt. Das erfordert Distanz und die Fähigkeit, analytisch zu denken, und macht deutlich, wie problematisch eine Verteidigung ist, die sich auf Unzurechnungsfähigkeit beruft. Ich glaube aber, dass ich einen Ausweg kenne, auf den ich noch zu sprechen komme. Was ist denn Ihre Meinung über den Erfolg eines Antrags auf Verhandlungsaufschub?«
    »Was würde ein Aufschub denn praktisch erreichen?«
    »Zwangseinweisung bis zu einem Zeitpunkt, an dem er wieder für verhandlungsfähig erklärt wird. In seinem Fall könnte das auch heißen: falls er je wieder verhandlungsfähig wird. Wird eine solche Taktik aber dem Jungen helfen? Er würde in eine staatliche Anstalt eingewiesen werden, und diese Häuser sind schrecklich. Landen würde er in einer Krankenstation, was sein Ende bedeuten würde. Wenn ich aber einen Prozess anstrebe und ihn erfolgreich wegen Unzurechnungsfähigkeit verteidige, habe ich größere Freiheit, seine künftige Unterbringung zu regeln.«
    Ich konnte mir vorstellen, woran er dachte. An eine Privatklinik, in der das Geld der Familie einen erheblichen Einfluss auf die Behandlung und später auf die Entlassung ausüben würde. Dort könnte Jamey lange genug im Hintergrund bleiben, bis sich der öffentliche Zorn gelegt hätte, um anschließend in aller Ruhe entlassen und zukünftig als Patient außer Haus gepflegt zu werden.
    Eine erschreckende Vorstellung stand mir plötzlich vor Augen. Könnte er nicht, mit einem Rezept für Thorazin und einer Verabredung mit dem Therapeuten entlassen, zu einer weiteren psychologischen Zeitbombe werden, falls irgendein Experte Verhaltensänderungen als Zeichen der Besserung missdeuten würde? Und wenn das geschähe, wäre ein allmähliches Nachlassen der Aufmerksamkeit bei der Einnahme von Tabletten und der Einhaltung von Arztterminen vorhersehbar, und die Dämonen würden unerbittlich wieder die Oberhand gewinnen. Verwirrungszustände, Schmerzen, nächtliches Umherirren. Plötzliche paranoide Wutausbrüche. Blut.
    Bisher war ich in Jameys Fall engagiert gewesen, weil ich ihm gegenübergesessen und Mitleid empfunden hatte. Dabei hatte ich die Verbrechen, die ihm vorgeworfen wurden, außer Acht gelassen und die Möglichkeit verworfen, dass er acht Menschen niedergemetzelt haben könnte. Aber sogar Souza schien seine Täterschaft zu vermuten. Unser Gespräch über Strategien der Verteidigung und Flexibilität bei der Auswahl von Pflegemöglichkeiten zwang mich, über die Konsequenzen meines Engagements nachzudenken.
    Wenn Jamey getan hatte, was man ihm vorwarf, wünschte ich keine Flexibilität, sondern eine lebenslängliche Verwahrung.
    Das machte mich nicht gerade zu einer Stütze der Verteidigung.
    Mal Worthy hatte mir seine psychische Überlebensstrategie empfohlen, die auf der Trennung von Bewerten und Handeln beruhte. Ich war aber kein Anwalt und würde es auch nie sein können. Ich beobachtete, wie Souza sich wieder ein Stück vom Steak absäbelte, und fragte mich im Stillen, wie lange ich es wohl in seinem Team aushalten würde.
    »Ich kann dazu nichts sagen«, antwortete ich.

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