Jamey. Das Kind, das zuviel wußte
»Das ist eine schwierige Frage.«
»Schon gut, Doktor, das ist auch mein Problem, nicht Ihres«, sagte er lächelnd. Er schob seinen Teller beiseite, dann verschwand seine untere Gesichtshälfte hinter einer Wolke aus weißem Leinen.
»Ich kann Ihnen auch etwas anderes aus der Küche bringen lassen, möchten Sie Früchte oder Kaffee?«
»Nein, vielen Dank.«
Neben der Wasserkaraffe stand eine Messingschale, die mit Pfefferminzplätzchen gefüllt war. Er bot mir davon an und nahm sich ein Plätzchen, nachdem ich abgelehnt hatte. Mit einem Klingelknopf, der unter der Tischplatte angebracht war, rief er eine schwarz gekleidete Philippinerin herbei, die das Geschirr abräumte.
Als sie gegangen war, sagte er: »Also gut, was wollen Sie über die Familie Cadmus wissen?«
»Beginnen wir mit Jameys Bezugspersonen, den für ihn wichtigsten Verwandten und mit Einzelheiten über den Tod seiner Eltern.«
»Einverstanden«, erwiderte er nachdenklich. »Um das Ganze besser zu verstehen, empfiehlt es sich, eine Generation vorher anzufangen, nämlich bei seinem Großvater.«
»Fein.« Ich zückte Notizbuch und Kugelschreiber.
»John Jakob Cadmus lernte ich nach dem Krieg in Deutschland kennen. Ich war Offizier bei der Ermittlungsbehörde, die nach Kriegsverbrechern fahndete, er war Feldbeauftragter des Generalstabs und dafür verantwortlich, die Bastarde vor Gericht zu bringen. Im Krieg hatte er als einfacher Soldat angefangen, bewährte sich heldenhaft in mehreren großen Schlachten und war bei Kriegsende mit siebenundzwanzig Jahren Oberst. Wir wurden Freunde, und als ich nach Kalifornien zurückkehrte, entschloss sich Black Jack, so wurde er wegen seiner katholischen irischen Herkunft genannt, mich zu begleiten. Er stammte aus Baltimore, war dort aber nicht verwurzelt, und der Westen war das Land der Verheißung.
Er war sehr vorausschauend, sah den Babyboom nach dem Krieg kommen und dadurch bedingt den Wohnungsmangel. Zu dieser Zeit war das Tal von San Fernando noch unentwickelt, es gab nur ein paar Bauernhöfe, Obstplantagen und ein großes Grundstück, auf dem der Staat eine Militärbasis plante, sonst nur Staub und Gestrüpp. Jack fing an, so viel Land zu kaufen, wie er bekommen konnte. Er machte riesige Schulden, und es gelang ihm, seine Gläubiger so lange zu beruhigen, bis er alles über Architektur gelernt und sich Baukolonnen besorgt hatte. Als dann der Babyboom kam, hatte er Dutzende riesiger Wohnsiedlungen gebaut mit mehreren tausend Bungalows, die meisten hatten ein Grundstück von zwölf mal vierundzwanzig Metern und fünf Zimmer. Er warb mit einem Obstbaum auf jedem Grundstück, Orangen, Zitronen oder Aprikosen und inserierte das Ganze bundesweit als kalifornischen Traum. Die Häuser verkauften sich schneller, als er sie bauen konnte, mit dreißig Jahren war er mehrfacher Millionär. Schließlich beteiligte er sich an Handels- und Industrieprojekten, und 1960 war Cadmus Construction die drittgrößte Baufirma in den Staaten. Als er im Jahr siebenundsechzig starb, betrieb die Firma große Bauprojekte in Saudi-Arabien, Panama und fast überall in Europa. Er war ein berühmter Mann, Doktor.«
Ich war mir nicht sicher, was er mit diesem Lobgesang auf einen Toten beabsichtigte.
»Wie war er als Gatte und Vater?«, fragte ich.
Souza verdross diese Frage.
»Er liebte seine Söhne und war freundlich zu seiner Frau.«
Eine eigenartige Antwort. Mein Gesicht musste meine Verwunderung widerspiegeln.
»Antoinette war eine schwierige Frau«, erklärte er. »Sie stammte aus einer bekannten Familie in Pasadena, die verarmt war, es aber trotzdem schaffte, ihr Gesicht zu wahren und ihre soziale Stellung zu halten. Jack traf sie auf einem Wohltätigkeitsball und verliebte sich augenblicklich in sie. Sie war eine Schönheit, schlank, blass, zerbrechlich, mit großen traurigen blauen Augen. Jamey hat die gleichen Augen, aber ich fand sie immer sehr fremdartig. Distanziert, sehr verletzlich. Ich vermute, dass gerade diese Verletzlichkeit ihn anzog. Schon bald nach der Hochzeit fingen ihre Probleme an.«
»Welche Probleme hatte sie?«
»Das fällt in Ihr Fach, Doktor. Anfangs schien sie extrem schüchtern zu sein, zog sich von der Gesellschaft zurück. Dann fiel auf, dass sie Angst hatte, das Haus zu verlassen, sie fürchtete sich vor dem Leben. Es gibt dafür bestimmt einen Fachausdruck.«
»Agoraphobie.«
»Agoraphobie«, wiederholte er. »Das war ihr Problem. Damals dachte man natürlich zuerst, sie wäre körperlich
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