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Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Titel: Jamey. Das Kind, das zuviel wußte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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ergibt sich der Rest von selbst. Das klingt alles sehr schön und ist wohl auch ganz brauchbar bei kleineren Verhaltensstörungen. Das gilt aber nicht bei Schizophrenien. Psychosen, Dr. Delaware, sind ausschließlich physiologische Phänomene, chemische Ungleichgewichte im Gehirn. Was der Patient sagt, während er an deren Folgen leidet, hat klinisch, wenn überhaupt, sehr geringe Bedeutung.«
    »Ich beabsichtige nicht, jede Nuance des Falls einer Psychoanalyse zu unterwerfen«, sagte ich, »und ich respektiere die biologischen Aspekte der Schizophrenie. Jedoch ungeachtet der Tatsache, dass sie typische Verhaltensmuster aufweisen, sind Psychotiker Individuen wie andere Menschen auch: Sie haben Gefühle. Und Probleme. Es schadet doch keinem, wenn wir versuchen, so viel wie möglich über Jameys Persönlichkeit zu erfahren.«
    »Aha, die ganzheitliche Methode.«
    »Nur eine sorgfältige.«
    »Gut«, sagte er einlenkend, »machen wir weiter. Was fragten Sie mich vorhin? Ach ja, visuelle und auditive Halluzinationen, ob sie üblicherweise gleichzeitig auftreten? Statistisch gesehen ja, aus klinischer Sicht nein. Kennzeichnend für diesen Fall sind von Beginn an atypische Verhaltensmuster. Vermuten Sie einen Missbrauch halluzinogener Stoffe?«
    »Mich beschäftigt die augenfällige Abweichung.«
    »Das ist verständlich, aber ein Missbrauch ist ausgeschlossen. Ich gebe zu, dass ich ihn bei seiner Einlieferung zunächst für einen PCP-Süchtigen hielt. Onkel und Tante wussten nicht, ob er Mittel nahm, das hielt ich jedoch nicht für entscheidend. Man durfte kaum erwarten, dass der Junge ihnen etwas gesagt hätte. Alle Tests waren jedoch negativ.«
    Die Pfeife war wieder ausgegangen. Mainwaring benutzte den kleinen Löffel seines Pfeifenbestecks, um die oberste Aschenschicht abzutragen, stopfte den Tabak fest und zündete ihn erneut an.
    »Nein«, sagte er, »ich glaube nicht an Drogenmissbrauch. Die Diagnose auf Schizophrenie ist gesichert. Obwohl visuelle Halluzinationen bei Psychosen atypisch sind, kommen sie dennoch vor, vor allem in Kombination mit Hörstörungen. Dies bringt mich auf einen wichtigen Punkt. Der Junge war unansprechbar und auch schwierig zu verstehen. Es schien, als ob er Dinge sowohl hörte als auch sah, aber ich könnte nicht mit Sicherheit sagen, ob beides der Fall war. Genauso gut hätten alle Wahrnehmungen auditiver Natur sein können.«
    »Was schien er denn zu hören oder zu sehen?«
    »Zurück zum Wesentlichen, nicht?« Er nahm die Pfeife aus dem Mund und begann, mit ihr herumzuspielen, sodass ich schon annahm, er wolle mir ausweichen. Schließlich zog er eine Grimasse und antwortete. »Um ehrlich zu sein, ich kann mich im Einzelnen nicht mehr erinnern, was er sagte.«
    »Souza sagte mir, dass er sich zunächst sehr deutlich ausdrücken konnte und darauf pochte, dass seine Einlieferung unrechtmäßig sei. Er soll dabei sehr überzeugend gewirkt haben.«
    »Ja, natürlich«, sagte Mainwaring hastig. »Anfangs hatte er die üblichen paranoiden Einbildungen: Jemand wolle ihn umbringen. Er war nicht verrückter als andere auch. Dann steigerte er sich in wilde Anklagen und vage Andeutungen, faselte von Giften und Wunden, von blutender Erde, der bekannte Unsinn. Bei dieser Diagnose nichts Außergewöhnliches. Für die Behandlung war das nicht von Bedeutung.«
    »Und die visuellen Vorstellungen?«
    »Der visuelle Teil hatte mit Farben zu tun. Er schien kräftige Farben zu sehen, besonders Rot.« Er lächelte schwach. »Ich vermute, das kann man als Vorstellung von Blut interpretieren - seine Wahrnehmungen waren blutgetränkt. Wenn man bedenkt, was inzwischen herausgekommen ist, braucht man sich nicht zu wundern.«
    »Und in seinen wachen Perioden«, wiederholte ich, »worüber hat er da gesprochen?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Mit Ausnahme der unmittelbar auf die Einlieferung folgenden Zeit kann man nicht von wachen Phasen reden. ›Minimal ansprechbar‹ würde die Sache besser beschreiben. Wenn ich den Begriff ›Gespräch‹ verwendet habe, dann in einem sehr eingeschränkten Sinn. Die meiste Zeit war er unansprechbar, völlig in sich zurückgezogen. Als die Medizin zu wirken begann, war er in der Lage, einfache Fragen mit Ja oder Nein zu beantworten. Er konnte aber kein Gespräch führen.«
    Ich dachte an Jameys Hilferuf. Er hatte es geschafft, mich anzurufen, und war in der Lage gewesen, seinen Standort anzugeben. Die meiste Zeit des Gesprächs hatte er zwar wirr durcheinander geredet, einige

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