Jamey. Das Kind, das zuviel wußte
klar, was für den Fall wichtig und was eine Abweichung ist.«
»Glauben Sie mir«, antwortete er sichtbar wütend, »so komplex sind die Fakten doch nicht. Der Junge wurde aus genetischen Gründen schizophren. Die Krankheit griff sein Gehirn an und zerstörte seinen so genannten freien Willen. Von Geburt an war ihm das vorbestimmt. Er war genauso gut Opfer wie die Leute, die er ermordete. Und das ist keine Spekulation, es basiert auf medizinischen Daten, die Fakten sprechen doch für sich. Wegen der Unkundigkeit der Richter wäre es hilfreich, diese Argumentation durch soziologische und psychologische Aspekte zu unterstützen. Ich empfehle ernsthaft, dass Sie Ihre Energien auf diese Aufgabe ausrichten.«
»Vielen Dank für den guten Rat.«
»Gern geschehen«, erwiderte er ungerührt. »Ich werde Ihnen die Kopie der Akte in ein paar Tagen schicken. Ich werde Sie jetzt hinausbegleiten.«
Wir standen auf und verließen das Büro. Die Flure der Klinik waren still und leer. Im Foyer saß ein gut gekleidetes Paar, hielt sich bei den Händen und sah auf den Boden. Die Frau hatte eine Ausgabe der Vogue ungeöffnet auf dem Schoß liegen. Der Mann hatte eine Zigarette im Mundwinkel. Als sie unsere Schritte hörten, sahen sie auf und starrten Mainwaring ehrfürchtig an.
Dieser winkte ihnen zu, entschuldigte sich bei mir für einen Moment und ging, sie zu begrüßen. Er schüttelte beiden voller Energie die Hände und begann, mit ihnen zu reden. Ich wartete noch einen Moment auf ihn; da er meine Anwesenheit wohl inzwischen vergessen hatte, verließ ich unbemerkt das Haus.
15
In einem Café in Sherman Oaks bestellte ich gegrillten Lachs und ein Glas Riesling und ließ das Interview mit Mainwaring noch einmal Revue passieren. Trotz aller Kenntnisse in Pharmakologie hatte er mir keinen Einblick in Jameys Persönlichkeit verschaffen können. Wenn man ihn darauf hingewiesen hätte, wäre ihm das zweifellos völlig nebensächlich erschienen. Er war ein selbst ernannter biochemischer Ingenieur mit geringem Interesse für jeden Organismus oberhalb der Einzeller. Früher würde man ihn für einen Extremisten gehalten haben, heute war er voll auf dem Laufenden, im Gleichschritt mit der neuen Welle der Psychiatrie - der Versessenheit auf biologischen Determinismus zulasten der Einsicht in seelische Prozesse. Dieser Wandel war auch zum Teil berechtigt, denn die reine Psychotherapie hatte sich als weniger erfolgreich bei der Behandlung von Psychosen erwiesen; dafür hatten Psychopharmaka bemerkenswerte, wenn auch nicht immer vorhersehbare symptomatische Erfolge erzielt.
Dahinter standen erhebliche politische Interessen, denn dadurch, dass sie sich wieder als Ärzte auswiesen, konnten sich Psychiater gegenüber Psychologen und anderen nichtmedizinischen Therapeuten abgrenzen. Aber auch ökonomisch ergab sich ein Sinn für diesen Wandel. Die Versicherungsgesellschaften waren nur widerwillig bereit, für undurchsichtige Dinge wie Gesprächstherapien Zahlungen zu leisten, hatten aber andererseits keine Probleme, ihre Gelder für Bluttests, Gehirnschriften, Spritzen und andere medizinische Prozeduren auszugeben.
Aber auch die Psychologie hatte ihre Ingenieure, Verhaltenstechnologen wie Sarita Flowers, die einen Bogen um lästige Störfaktoren wie Gefühle und Gedanken machten und menschliches Verhalten als ein Konglomerat schlechter Gewohnheiten interpretierten, die allein durch Skinner ihr Heil finden konnten.
Beide Perspektiven hatten ein verengtes Blickfeld, rundheraus gesagt waren sie dem Götzen der Quantifizierung verfallen, ihr gemeinsames Kennzeichen waren vorzeitiges Eigenlob und Schwarzweißsicht. In der Mitte gab es eine Grauzone, und darin konnte ein Patient leicht verloren gehen.
Ich fragte mich, ob Jamey so etwas passiert war.
Als ich gegen zwei Uhr wieder zu Hause war, rief ich Souza an und bat ihn, ein Treffen mit Marthe Brown zu arrangieren.
»Ah, mit Marthe, eine nette Frau. Ich werde am besten die Agentur anrufen, bei der sie registriert ist, und versuchen, sie zu erreichen. Haben Sie schon etwas Wichtiges erfahren können? Ich möchte noch keine endgültige Beurteilung haben, nur ein Gefühl dafür, in welche Richtung Ihre Ermittlungen führen.«
»Bisher nichts Wesentliches. Ich stelle immer noch Fragen.«
»Ich verstehe. Und wann werden Sie ausreichend informiert sein, um einen Bericht zu schreiben?«
»Das ist schwer zu sagen. Vielleicht in einer Woche.«
»Also gut. Am Ende des Monats werden wir in die
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