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Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Titel: Jamey. Das Kind, das zuviel wußte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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Souza hat angerufen. Er wollte dich persönlich sprechen, hat es dann aber mir gesagt. Charmanter alter Bock, nicht?«
    »So habe ich ihn noch nicht erlebt.«
    »So ist er aber, Schätzchen. Sehr höflich, sehr europäisch. Wie ein guter Onkel. Es gibt Frauen, die mögen so etwas.«
    »Ich halte ihn eher für herrschsüchtig und berechnend. Er denkt immer nur strategisch, will sein Spiel machen.«
    »Ich verstehe dich ja«, meinte sie, »aber würdest du nicht gern so einen Verteidiger haben, wenn du in Schwierigkeiten wärst?«
    »Vermutlich schon«, antwortete ich missmutig. »Was wollte er denn?«
    »Dr. Mainwaring hat morgen früh, um zehn Uhr, Zeit für dich. Wenn er nichts mehr von dir hört, erwartet er dich.«
    »Vielen Dank.«
    Sie stützte sich auf und sah mir in die Augen. Weiche, duftende Locken strichen mir über das Gesicht.
    »Armer Milo«, sagte sie traurig. Ich schwieg. »Hast du schlechte Laune, Liebling?«
    »Nein, ich bin nur müde.«
    »Ich hoffe, nicht zu müde.« Ihre Zungenspitze fuhr über meine Oberlippe. Eine Welle der Erregung strömte durch meinen Körper.
    »Nie zu müde«, sagte ich und nahm sie in die Arme.
    Bei Tageslicht wirkten die grauen Betonwände von Canyon Oaks trostlos, im Schutze der Dunkelheit waren sie mir weiß erschienen. Wie Grabsteine erhoben sie sich aus den grünen Hügeln.
    Mainwaring war um zehn Uhr noch nicht in seinem Büro. Seine Sekretärin sagte mir, dass das so beabsichtigt sei. Sie führte mich in eine kleine Bibliothek in der Nähe der Eingangshalle und übergab mir Jameys Akte.
    »Der Doktor meint, Sie sollten das zuerst lesen. Er steht Ihnen danach zur Verfügung.«
    Der Raum war kahl und fensterlos, möbliert mit einem schwarzen, vinylbezogenen Sofa, einem kleinen Tisch aus Kunststoff, der wie Holz aussah, und einer Kugellampe. Der Aschenbecher auf dem Tisch war voller Kippen. Ich setzte mich hin und öffnete die Akte.
    Mainwarings Protokoll über Jameys nächtliche Einlieferung in Canyon Oaks war detailliert, fast pedantisch. Der Patient wurde als erregt, verwirrt und aggressiv beschrieben. Eine psychiatrische Diagnose war deshalb nicht möglich gewesen. Erwähnt wurde, dass man den Patienten mit Polizeibegleitung zur Klinik gebracht hatte.
    Mainwaring hatte eine eingehende Untersuchung durchgeführt, die den Verdacht auf Gehirntumor oder organische Erkrankungen nicht bestätigte, obwohl er in einem zusätzlichen Vermerk darauf hinwies, dass die fehlende Bereitschaft des Patienten eine umfassende Diagnose nicht zugelassen habe. Die Ergebnisse der Computertomographie und des Elektroenzephalogramms waren angeheftet. Die Blutanalyse schloss die Einnahme von LSD, PCP, Amphetamin, Kokain und anderen Opiaten aus.
    Psychiatrische und medizinische Anamnesen wurden mit Mr. Dwight Cadmus und Mrs. Heather Cadmus unter Rechtsaufsicht und in Anwesenheit von Rechtsanwalt Mr. Horace Souza aufgenommen. Alle Ergebnisse waren in medizinischer Hinsicht nicht signifikant. Demgegenüber ergab die Krankheitsgeschichte in psychiatrischer Hinsicht Anzeichen fortschreitenden psychischen Verfalls, manifest durch Verfolgungswahn und vermutlich auditive Halluzinationen bei einer schizoiden bzw. im Grenzbereich zur Schizophrenie liegenden Persönlichkeit. Die Arbeitshypothese für die Therapie war: »schizoide Verwirrungszustände mit unterschiedlicher Charakteristik (paranoider Typ, DSM Nr. 295.3x, mögliche Entwicklung zu undifferenz. Typ, DSM Nr. 295.6x)«. Mainwaring verordnete die Unterbringung und einleitende Behandlung mit Chlorpromazin - der Oberbegriff für Thorazin -, hundert Milligramm oral, viermal am Tag.
    Dem Aufnahmeprotokoll beigeheftet waren Kopien des Polizeiberichts, des Gerichtsbeschlusses, der die Klinik ermächtigte, den Jungen gegen seinen Willen für eine Zeit von zweiundsiebzig Stunden festzuhalten, des darauf folgenden Beschlusses auf langfristige Unterbringung. Im Anhang befand sich auch das Diagramm einer Gehirntomographie, die zwei Tage nach der Einlieferung durch einen hinzugezogenen Radiologen vorgenommen worden war und keine organischen Gehirnschäden nachwies. Der Spezialist berichtete mit kaum verhüllter Abneigung, wie mühsam es gewesen sei, die Geräte trotz des aggressiven Verhaltens des Patienten zu justieren, und hielt fest, dass die Durchführung einer Gehirnschrift unmöglich sei, solange das Verhalten des Patienten sich nicht bessere. Im Übrigen sei der Test in diesem Fall ungeeignet, fügte er hinzu, weil der Patient sichtbar psychotisch

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