Jamey. Das Kind, das zuviel wußte
aufschlussreich. Stuhlgang, Ernährung, Flüssigkeitsaufnahme und Körpertemperatur waren in einem Tagebuch sorgfältig aufgezeichnet. Die Schwestern beschrieben Jamey entweder als nicht ansprechbar oder als feindselig. Nur Miss Brown, eine freie Krankenschwester, hatte Positives zu berichten. Mit großen Buchstaben und liederlicher Schrift hatte sie stolz sein gelegentliches Lächeln und seine Freude über die abendliche Rückenmassage festgehalten. Ihr Optimismus wurde durch die Stationsschwester, Mrs. A. Vann, staatl. gepr. Krankenschwester, die sich an Fakten hielt und Kommentare vermied, auf den folgenden Seiten eindeutig widerlegt.
Als ich die Akte schloss, öffnete sich die Tür, und Mainwaring trat ein. Er kam so auf die Minute, dass ich fast dachte, man hätte mich beobachtet. Während ich aufstand, sah ich mich nach einer versteckten Kamera um, entdeckte aber keine.
»Dr. Delaware«, sagte er und schüttelte mir die Hand. Er trug einen langen weißen Kittel über einem weißen Hemd, eine schwarze Krawatte, Tweedhosen und schwarze Halbschuhe. Die braunen Augen in seinem schmalen Wolfsgesicht prüften mich flink von Kopf bis Fuß.
»Guten Morgen, Dr. Mainwaring.«
Er sah auf die Akte, die ich noch in der Hand hatte.
»Ich verließ mich darauf, dass Sie meine Handschrift entziffern können.«
»Kein Problem«, erwiderte ich und gab ihm den Ordner. »Es war sehr aufschlussreich.«
»Man versucht, so gründlich wie möglich zu sein.«
»Ich würde gern eine Kopie für meine Akten haben.«
»Geht in Ordnung, ich werde sie Ihnen mit der Post schicken.«
Er ging zur Tür und hielt sie einladend auf. »Trotz der Gründlichkeit haben Sie vermutlich Fragen.«
»Ein paar.«
»Gut, gehen wir in mein Büro.«
Wir hatten es nicht weit bis zur Tür, die seinen Namen trug. Im Büro herrschte das Chaos, wild durcheinander fliegende Papiere, zerfranste Aktenbände, Bücherstapel und willkürlich herumstehende Möbel beherrschten die Szene. Er warf ein Bündel Fachzeitschriften von einem hochlehnigen Stuhl auf den Boden und bot mir den Sitz an. Nachdem er sich einen Weg zu einem schmucklosen hölzernen Schreibtisch gebahnt hatte, setzte er sich dahinter und griff nach einem runden Pfeifenständer, der von einem Stapel Rechnungsformularen halb verdeckt war. Dann zog er einen ledernen Tabaksbeutel aus der Tasche, wählte eine kurze Shagpfeife aus, füllte sie und vollzog das übliche Ritual des Anzündens, Feststopfens und Wiederanzündens. Scharf riechender Qualm vernebelte den Raum.
»So«, sagte er, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen, »wir sollten jetzt mit unserem Erfahrungsaustausch beginnen.«
Da ich nie an eine Zusammenarbeit mit ihm gedacht hatte, vermied ich eine direkte Antwort und erwiderte, dass es sich um einen komplexen Fall handele und ich noch weit davon entfernt sei, etwas Wichtiges berichten zu können.
»Verstehe, haben Sie schon mit vielen Schizophrenen gearbeitet?«
»Das ist nicht mein Spezialgebiet.«
Er sog an seiner Pfeife und stieß eine beißende Qualmwolke aus. Nachdem er ihr mit den Augen bis an die Decke gefolgt war, senkte er den Blick und riss seine Lippen zu einem breiten Lächeln auseinander. »Nun denn«, sagte er, »was möchten Sie wissen?«
»Aus der Akte geht hervor, dass Jamey die meiste Zeit seines Klinikaufenthalts nicht ansprechbar war. Sie haben aber festgehalten, dass er in wenigen wachen Phasen einem Gespräch folgen konnte. Ich würde gern wissen, worüber er gesprochen hat.«
»Hm, hm, sonst noch etwas?«
»Sie berichten über Halluzinationen, sowohl auditiver als auch visueller Natur. Halten Sie das für bedeutsam? Und was konkret hörte oder sah er während seiner halluzinativen Perioden?«
Der Arzt knetete gedankenvoll seine Finger. Er hatte lange, fast weibliche Nägel, die mit einem farblosen Lack überzogen waren.
»Sie sind also«, erwiderte er, »grundsätzlich mehr an inhaltlichen Dingen interessiert. Darf ich fragen, warum?«
»Vielleicht könnte man dabei erfahren, was in seinem Kopf vorging.«
Diese Antwort hatte er wohl erwartet, denn sein Lächeln erschien wieder.
»Es ist mir klar, dass wir von sehr gegensätzlichen theoretischen Standpunkten ausgehen. Da wir zusammenarbeiten wollen, lege ich am besten gleich meine Karten auf den Tisch. Sie wollen den Fall nach den Regeln der klassischen Psychodynamik angehen: Probleme werden durch unterbewusste Konflikte verursacht. Analysiert man die Ursachen der Probleme und macht man sie bewusst,
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