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Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Titel: Jamey. Das Kind, das zuviel wußte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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und Landschaften aus England in Mahagonirahmen, deren Farben vornehm, aber verblasst wirkten. Ein falscher Kamin war mit Kalkstein eingefasst. Nicht zur Einrichtung passte eine Sammlung primitiver Skulpturen über dem Kamin: ein halbes Dutzend grober, schlitzäugiger Gesichter, aus rohem grauem Stein gehauen.
    Auf einem Sofa saß eine Frau. Als ich hereinkam, erhob sie sich, hoch gewachsen und gertenschlank.
    »Guten Tag, Dr. Delaware«, begrüßte sie mich mit leiser Kleinmädchenstimme. »Ich bin Heather Cadmus.« Zu Antrim sagte sie: »Vielen Dank, Tully. Sie können jetzt gehen.«
    Der Chauffeur verließ uns, und ich ging auf sie zu.
    Ich wusste, dass sie fast so alt war wie ihr Mann, sie sah aber zehn Jahre jünger aus. Sie hatte ein schlankes, blasses und faltenloses Gesicht, das in ein festes, scharfes Kinn auslief. Bis auf einen Hauch von Eyeliner trug sie kein Make-up. Ihre kastanienbraunen, schulterlangen Haare wippten an den Enden, zerzauste Fransen bedeckten eine hohe, flache Stirn. Große graue Augen sahen mich an. Die Nase war lang mit schmalem Rücken und leichtem Aufwärtsschwung, die Nüstern waren schmal. Sie hatte das Gesicht einer Debütantin, gepflegt, rassig und mädchenhaft hübsch. Der Eindruck lässigen Wohlstands wurde durch ihre Kleidung abgerundet: rosa Baumwollbluse mit geknöpftem Kragen, modischer Rock aus schwarzer Wolle, rehbraune flache Slipper, kein Schmuck bis auf ein diamantbesetztes Brautkettchen. Sie hatte schlanke, feingliedrige Hände mit langen, lackierten Fingernägeln.
    Nachdem sie mir die Hand gereicht hatte, sagte ich: »Ich freue mich, Sie kennen zu lernen, Mrs. Cadmus.«
    »Nennen Sie mich bitte Heather«, antwortete sie in ihrer seltsam hellen Kinderstimme. »Bitte nehmen Sie doch Platz.« Sie setzte sich wieder, jedoch in die äußerste Ecke des Sofas. Sie nahm eine aufrechte Haltung ein, strich ihren Rock glatt und kreuzte ihre Beine an den Knöcheln. Ich setzte mich in einen der Queen-Anne-Sessel und versuchte, dessen Unbequemlichkeit zu verdrängen.
    Sie lächelte mich nervös an und faltete ihre Hände im Schoß. Einen Moment darauf erschien ein spanisches Hausmädchen in schwarzer Tracht. Heather begrüßte sie mit einem Kopfnicken, dann sprachen beide kurz in fließendem Spanisch miteinander.
    »Darf ich Ihnen etwas anbieten, Doktor?«
    »Nein, danke.«
    Sie entließ das Mädchen.
    Durch die Vorhänge hörte man gedämpftes Geschrei von der Straße. Sie zuckte zusammen und sagte: »Ich bin zu früh zurückgekehrt. Es ist der reinste Belagerungszustand. Ich bin froh, dass meine Kinder das nicht sehen. Sie haben schon so vieles durchmachen müssen.«
    »Ihr Mann erzählte mir, dass Jamey sehr grob zu ihnen war«, sagte ich und nahm mein Notizbuch heraus.
    »Ja, das war er«, antwortete sie leise. »Sie sind kleine Mädchen, und er hat ihnen solche Angst gemacht.« Ihre Stimme brach. »Ich denke ständig daran, wie sich das auswirken wird. Auch mein Mann steht unter einer ungeheueren Anspannung.«
    Ich nickte verständnisvoll.
    »Bitte, verstehen Sie mich nicht falsch«, fuhr sie fort, »ich mache mir große Sorgen um Jamey. Wenn ich daran denke, was mit ihm passiert ist, das ist … kaum zu ertragen.«
    »Ich entnehme dem, dass Sie sich mit Jamey sehr gut verstanden.«
    »Ich … ich habe das immer geglaubt. Ich dachte, ich hätte ihn richtig angefasst, jetzt weiß ich überhaupt nichts mehr.«
    Wieder versagte ihr die Stimme. Mit einer Hand presste und knetete sie den Wollstoff ihres Rocks, bis ihre Fingerknöchel weiß wurden.
    »Heather, ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen, die Sie sehr aufregen werden. Wenn Ihnen das heute zu nahe geht, kann ich ein anderes Mal wiederkommen.«
    »Oh, nein, mir geht es gut. Bitte fangen Sie an.«
    »Gut. Beginnen wir mit dem Zeitraum, in dem Sie heirateten. Jamey war fünf. Wie reagierte er auf das neue Familienmitglied?«
    Sie zuckte zurück, als hätte diese Frage sie verletzt, und formulierte dann nachdenklich ihre Antwort.
    »Das war für uns alle eine sehr schwierige Zeit. Von einem Tag auf den anderen war ich kein allein stehendes Mädchen mehr, sondern eine Stiefmutter. Das ist eine schwere Aufgabe, mit allen möglichen üblen Vorurteilen behaftet. So hatte ich mir das mit meinen vierundzwanzig Jahren nicht vorgestellt. Ich dachte aber, ich würde das schon schaffen, doch das gelang mir nicht.«
    »Was für Probleme gab es denn?«
    »Was jedermann erwartet hatte. Jamey war sehr eifersüchtig auf mich, was

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