Jamey. Das Kind, das zuviel wußte
verständlich war, denn Dwight hatte sich um ihn mehr gekümmert als sein richtiger Vater. Plötzlich, aus heiterem Himmel, kam ich dazu. Er empfand mich als Rivalin und versuchte alles, um mich auszuschalten. Aus der Sicht eines Kindes erscheint mir das logisch.«
»Was stellte er denn an?«
»Er beleidigte mich, nahm mich nicht zur Kenntnis. Bei seiner Intelligenz konnte er sehr grausam sein, aber ich erkannte, dass er aus Angst so handelte und ich das ertragen musste. Ich legte mir ein dickes Fell zu und stellte mich auf die Hinterbeine. Schließlich akzeptierte er meine Anwesenheit doch, und mit der Zeit kamen wir auch ins Gespräch. Dwight hatte sehr viel im Geschäft zu tun, ich war immer zu Hause. Ein großer Teil der Erziehung kam deshalb auf mich zu. Wir redeten eine ganze Menge miteinander, meistens aber nichts Persönliches, denn er war ein Einzelgänger und behielt seine Gefühle für sich. Nachdem ich selbst Kinder hatte, habe ich erst gemerkt, wie zurückhaltend er war. Manchmal, glaube ich, hatte er trotzdem Vertrauen zu mir.«
Sie schwieg und sah auf ihre Hände nieder, die den Stoff umkrallt hielten. Dann atmete sie tief ein und entspannte sich.
»Im Hinblick darauf, was inzwischen geschehen ist, habe ich mich nicht genügend um ihn gekümmert, aber damals dachte ich, ich würde mein Bestes geben.«
Ihre Unterlippe zitterte, und sie wandte sich ab. Der Schein einer Tischlampe umhüllte ihr Profil wie eine Aura und ließ sie wie eine lebensgroße Statue aussehen.
»Hat er jemals mit Ihnen über Homosexualität gesprochen?«
Ihr Mann hatte auf dieses Thema ärgerlich und ablehnend reagiert, sie blieb jedoch äußerlich ungerührt.
»Nein. Als es Anzeichen … dafür gab, verbrachte er bereits die meiste Zeit mit Dig Chancellor und wollte nichts mehr von uns wissen.«
»Meinen Sie, dass Chancellor mit dieser Veränderung etwas zu tun hatte?«
Sie dachte eine Zeit lang nach.
»Ich vermute, dass Jamey ihn sich zum Vorbild nahm. Wenn Sie damit sagen wollen, dass Chancellor ihn dazu gemacht hat, würde ich das nicht glauben.«
»Sie halten ihn also für homosexuell?« Die Frage schien sie zu überraschen.
»Natürlich ist er das.«
»Ihr Mann denkt anders als Sie.«
»Doktor«, sie seufzte, »ich habe einen guten Mann. Er arbeitet hart und ist ein vorbildlicher Vater, kann aber auch sehr eigensinnig sein. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, das mag völlig falsch sein, kann man ihn von seiner Meinung nicht mehr abbringen. Er hat Jamey sehr lieb, bis vor kurzem behandelte er ihn wie seinen eigenen Sohn. Der Tatsache, dass sein Sohn sexuell unnormal ist, kann er nicht ins Auge sehen.«
Angesichts der weitaus schrecklicheren Tatsachen über Jamey fragte ich mich, warum die sexuellen Neigungen des Jungen Cadmus in eine solche Abwehrhaltung bringen konnten. Es war aber jetzt nicht der rechte Augenblick, um das Thema anzugehen.
»Wann ist Ihnen zuerst aufgefallen, dass Jamey homosexuell ist?«, fragte ich.
»Ich hatte es schon eine Weile vermutet. Als ich einmal, um nach der Putzfrau zu sehen, in sein Zimmer kam, fielen mir pornografische Fotos in die Hand. Wenn ich das Dwight erzählt hätte, wäre es zu einer Explosion gekommen, deshalb habe ich die Bilder einfach weggeworfen und gehofft, dass es vorübergehen würde. Aber einige Wochen danach waren diese Bilder wieder in seiner Sammlung und noch einige mehr. Ich war mir damals sicher, dass er Probleme hatte. In der folgenden Zeit begann ich, ihn aufmerksamer zu beobachten, und viele Dinge fügten sich zusammen: Er hatte nie Interesse am Sport, wollte nicht mit anderen Jungen spielen und machte einen Bogen um Mädchen. Wir sind gesellschaftlich sehr aktiv, und er hatte eine Menge Möglichkeiten, junge Frauen kennen zu lernen, aber immer, wenn wir darauf anspielten oder ihn jemandem vorstellen wollten, wurde er wütend und ging weg. Als dann die ständigen Besuche bei Digby begannen, bestätigte sich mein Verdacht.«
»Wie haben sich die beiden denn getroffen?«
Sie nagte an ihrer Unterlippe und machte einen unglücklichen Eindruck.
»Müssen wir wirklich darüber reden? Das ist eine sehr … peinliche Sache.«
»Es wird im Prozess behandelt werden.«
Sie beugte sich vor, um eine Zigarettendose aus Platin vom Couchtisch zu nehmen. In der Nähe lag ein Feuerzeug, mit welchem ich ihr Feuer gab, nachdem sie sich eine Filterzigarette zwischen die Lippen gesteckt hatte.
»Vielen Dank«, sagte sie, lehnte sich zurück und stieß langsam
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