Jammerhalde: Tannenbergs siebter Fall
Polizeibeamter.
Der Arbeitslose wandte sich um. »Das ist mir scheißegal. Mein Leben hat sowieso keinen Sinn mehr.« Wütend trat er an den Türrahmen. Er schluchzte auf, ließ die Axt aus der rechten Hand gleiten und trommelte anschließend mit beiden Fäusten gegen die Glastür. »Johanna, Johanna«, jammerte er, »bitte, bitte, komm und sprich mit mir. Nur ein paar Minuten. Ich liebe dich, ich liebe dich doch so sehr.«
Ein junger Schutzpolizist schaltete blitzschnell. Mit einem gewaltigen Satz hechtete er an die Treppe, sprang hoch und schnappte sich die Axt. Unmittelbar danach eilten zwei seiner Kollegen hinauf zu dem verzweifelten Mann und legten ihm Handschellen an.
Plötzlich zuckte Tannenberg zusammen. Unbemerkt hatte sich Kurt zu ihm geschlichen und leckte ihm nun die rechte Hand. Während der verstörte Arbeitslose an ihm vorbei zu einem der Streifenwagen abgeführt wurde, kraulte er den zottigen Hundekopf.
»Sei ja froh, dass du kein Mensch bist«, murmelte er. Goethe hatte recht: ›Er nennt’s Vernunft, und braucht’s allein, um tierischer als jedes Tier zu sein‹, wiederholte er in Gedanken das Zitat, welches ihm Dr. Schönthaler vor ein paar Tagen präsentiert hatte.
Er promenierte mit Kurt hinunter zu einer schmalen Grünanlage, die als aufgeschütteter Erdwall die Schanzstraße von der zweispurigen Ludwigstraße trennte. Sein nachdenklicher Blick ruhte eine Weile auf dem Haupteingang des gegenüberliegenden Rittersberg-Gymnasiums, seiner alten Schule. Hier hatten Heiner und er in den wilden 70er Jahren Abitur gemacht, ebenso wie vor kurzem Marieke. Und ihr Bruder Tobias schrieb in diesem Augenblick etwa hundert Meter von ihm entfernt eine wichtige Kursarbeit.
Ein aufdringlicher Rüde riss Tannenberg abrupt aus seinen Tagträumereien. »Verschwinde, du geiler Bock!«, zischte er ihm aggressiv entgegen. Zudem deutete er Fußtritte an. Die hinter seinem Rücken auftauchende Hundebesitzerin bombardierte ihn daraufhin mit empörten Worten. Nur unter großer Mühe verschluckte er weitere Kommentare und schlenderte zurück zum Benzinoring. Einem spontanen Impuls folgend, entschloss er sich nun doch noch zu einem Besuch des Pfalzinstituts.
Als der Leiter der Kaiserslauterer Mordkommission die Institutsbibliothek betrat, wurde er zunächst überhaupt nicht bemerkt. Alle Blicke der anwesenden Personen waren auf Johanna von Hoheneck gerichtet, die zusammengesunken in einer Sitzecke kauerte. Sie trug ein orangenfarbenes Tank-Top und Designerjeans. Die Beine hatte sie an den Oberkörper herangezogen und hielt die Knie fest umschlungen. Ihr Kopf war nach unten geneigt, die Augen geschlossen. Die senkrechten schwarzen Kajallinien auf ihren Wangen erinnerten an eine Kriegsbemalung. Drei Männer und eine Frau saßen ihr direkt gegenüber und beobachteten mit leidvollen Mienen jede ihrer Regungen. Es sah aus, als ob alle im selben, synchronen Rhythmus atmeten. Ja, sogar Hannes leise Stoßseufzer erzeugten ein unmittelbares, leises Echo.
Tannenberg mochte sich nicht so recht entscheiden, ob er dieses Gebaren eher als Mitgefühl oder als Voyeurismus deuten sollte. Aber je länger er dieses Szenario betrachtete, umso stärker tendierte er zu Letzterem. Während sein Herrchen wie auf der Stelle festgewachsen schien, trottete Kurt hinüber zu Hanne und schob seinen massigen Kopf in die Kuhle unter ihrem Arm. Erschrocken zuckte Hanne zusammen, doch gleich darauf löste sich ihre verkrampfte Körperhaltung und die Beine glitten zum Boden hin.
»Ja, wer bist du denn?«, wisperte die 34-jährige Historikerin, die urplötzlich ihre Sprache wiedergefunden zu haben schien. Zärtlich kraulte sie das zottelige Haupt des imposanten Mischlingshundes. Kurt bedankte sich mit wohligen Grunzlauten. »Du bist ja ein verschmustes Wuscheltier. Zu wem gehörst du denn eigentlich?«, fragte sie hauchend. Ein melancholischer Blick wanderte in Richtung der Eingangstür.
Als Tannenberg Hannes verweintes Gesicht mit den tieftraurigen, blauen Augen sah, durchfuhr ihn ein stromschlagartiger Ruck. »Ähm, das ist, das ist meiner«, stotterte er. »Der tut aber nichts.« Die Köpfe der anderen Personen waren inzwischen zu ihm herumgeschnellt und beäugten ihn argwöhnisch. Der Kriminalbeamte begab sich zu Hanne, griff Kurt ins Halsband und wollte sie vom Schoß der Historikerin ziehen.
Johanna von Hoheneck, die inzwischen ihre Brille wieder aufgesetzt hatte, feuerte einen herzzerreißenden Blick in seine Richtung ab. »Bitte lassen
Weitere Kostenlose Bücher