Jammerhalde: Tannenbergs siebter Fall
Sie ihn noch ein wenig bei mir. Das ist so ein liebes Tier.«
»Selbstverständlich«, entgegnete Tannenberg.
Er räusperte sich verlegen und begann in der Bibliothek herumzuspazieren. Während er so tat, als inspizierte er die Bücher in den Regalen, grübelte er über seine weitere Vorgehensweise nach.
Wenn ich jetzt schon hier bin, könnte ich diese Frau doch gleich mal nach dem ›Kroatensturm‹ fragen. Das würde sie ganz bestimmt von dieser Stalker-Sache ablenken. Aber wie werde ich diese blöden Gaffer los?, pochte es unter seiner Schädeldecke.
»Ach, jetzt weiß ich auch, wer Sie beide sind«, verkündete Hanne mit merklich veränderter, heiterer Stimme. »Das hier ist Kurt.« Das fahle Gesicht der Historikerin leuchtete auf. »Und Sie müssen Herr Tannenberg sein.«
Erst nach einigen Schrecksekunden vermochte Wolfram Tannenberg zu antworten: »Woher wissen Sie denn das?«
»Na ja, Kurts Name steht hier im Halsband. Da es sicherlich nicht sehr viele Hündinnen mit diesem Namen in der Stadt gibt …« Den Rest ließ sie unausgesprochen. Nachdem sie einen großen Schluck Wasser getrunken hatte, fuhr sie fort: »Und sein Herrchen kenne ich aus den Schilderungen unseres lieben Jacob. Ihr Herr Vater ist Stammgast bei uns im Institut. Übrigens ein ausgesprochen gern gesehener. Solch einen höflichen, hilfsbereiten und freundlichen Senior trifft man heutzutage selten.«
Tannenberg traute seinen Ohren nicht. Für diese Aussage gab es nur eine einzige Erklärung: Es musste sich um eine Verwechslung handeln. Denn er würde seinen Vater wohl eher mit den entgegengesetzten Eigenschaften beschreiben.
»Er hat uns schon viel von Ihnen erzählt«, ergänzte Hanne. Ihr Lächeln wurde breiter, so dass es regelrecht versonnen wirkte. »Manchmal bringt er mir sogar Blumen mit.«
Blumen? Wann hast du Grufti-Casanova denn meiner Mutter zum letzten Mal Blumen mitgebracht?, tobte die Wut in seinem Innern. Von mir erzählt … Von wegen! Rumgeprotzt hast du wieder mit dem leitenden Kriminalhauptkommissar.
Plötzlich erlosch Hannes Lächeln, sie schluckte hart. »Sie sind Chef der Mordkommission, nicht wahr?«
Während der Kriminalbeamte nickte, spitzten die anderen Zuhörer noch schärfer die Ohren.
»Könnten wir uns vielleicht in Ihrem Büro weiterunterhalten?«, versetzte Tannenberg und zog dabei Kurt von Hannes Schoß.
»Ja, natürlich«, entgegnete sie und erhob sich.
Demonstrativ geräuschvoll ließ Tannenberg die Tür ins Schoß fallen. Nun konnte er sich eine Frage, die ihn seit Minuten beschäftigte, nicht mehr verkneifen: »Was sind denn das eigentlich für Leute da draußen?«
»Die Frau ist unsere Sekretärin. Der Herr neben ihr ist Dr. Weißmann, der Leiter des Instituts. Und bei den anderen Herren handelt es sich um regelmäßige Besucher. Die beiden sind Hobbyhistoriker und Ahnenforscher – wie ihr Vater.« Matt sank sie in ihren Bürosessel. »Ist Alexander etwas passiert? Sind Sie deshalb hier?«, fragte sie mit einer Anteilnahme, die ihr Gegenüber ziemlich irritierte.
»Nein, nein«, antwortete Tannenberg betont gedehnt.
Er musste Zeit gewinnen, denn diese Erkundigungen hatten ihn völlig aus dem Konzept gebracht. In seinem Kopf hämmerte unaufhörlich ein und dieselbe Frage: Wie kann man solch einem Mistkerl auch noch Mitgefühl entgegenbringen? Er ging zum Fenster und blickte hinunter in den Hof. Dann setzte er sich auf die andere Seite des gläsernen Schreibtischs. Kurt legte sich neben ihn.
Hanne schien seine Gedanken zu erraten. »Eigentlich kann er nichts dafür. Er ist ja psychisch krank«, sagte sie seufzend. Sie verbarg ihr Gesicht hinter den Händen und wiegte den Kopf hin und her. »Wenn ich das alles damals nur geahnt hätte«, jammerte sie und ergänzte in eine entschuldigende Geste hinein: »Niemals hätte ich gedacht, dass er so überreagieren könnte.«
Während seiner langen Berufstätigkeit hatte Wolfram Tannenberg solche Situationen schon häufig erlebt. Irgendwann nach einem extrem belastenden Erlebnis schlug der anfängliche Lähmungszustand radikal ins Gegenteil um: Bei den geschockten, sprachunfähigen Tatopfern brachen urplötzlich alle Dämme und sie befreiten ihre Seele von dem ganzen aufgestauten Ballast.
Hanne redete über eine halbe Stunde lang am Stück. Der Leiter des K 1 hörte ihr geduldig zu, unterbrach sie nicht ein einziges Mal. Auch dann nicht, als sie sehr weit in ihrer Biographie zurückging und ausschweifend von ihrer unbeschwerten Kindheit auf einem
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