Jammerhalde: Tannenbergs siebter Fall
Gestüt im Pfälzer Wald berichtete.
Ausführlich schilderte sie die Vorgeschichte ihrer vor knapp sechs Monaten erfolgten Rückkehr in die Heimat ihrer Vorfahren. Kurz nach dem Abitur hatte sie einen amerikanischen Offizier kennen- und lieben gelernt. Nach einer beruflich bedingten Odyssee durch die halbe Welt hatten sich die beiden dauerhaft in Washington niedergelassen, wo ihr Ehemann ein hohes Amt im US-Verteidigungsministerium bekleidete. Nach Hannes Auffassung war sein extremer Karrierismus für das Scheitern ihrer kinderlos gebliebenen Ehe verantwortlich.
Nach der Scheidung hielt sie nichts mehr in den USA. Bereits von den Staaten aus machte sie sich auf die Suche nach einer Stelle als Historikerin und traf gleich voll ins Schwarze. Sie kehrte in die Pfalz zurück, wo noch ihre engsten Verwandten wohnten. Hanne nahm ihren Mädchennamen wieder an und suchte sich eine Wohnung in einem Mehrfamilienhaus im Ostteil der Stadt. Hier nahm das Verhängnis offensichtlich seinen Lauf.
Nach ihren eigenen Worten gebärdete sich Alexander Fritsche zunächst als netter, hilfsbereiter Nachbar. Hanne war froh gewesen, jemanden wie ihn in ihrer Nähe zu haben. Er arbeitete in der Immobilienabteilung einer Großbank, war beruflich erfolgreich und ausgesprochen unternehmungslustig. Doch bereits nach kurzer Zeit spürte Hanne, dass ihr Nachbar an mehr als nur einem freundschaftlichen Verhältnis zu ihr interessiert war. Zuerst hatte Johanna mit dezenten Abwehrsignalen auf die Werbung des fünf Jahre älteren Mannes reagiert. Als er diese aber ignorierte und sein Drängen überdies noch heftiger wurde, sagte sie ihm klipp und klar, dass eine engere Beziehung für sie nicht in Frage käme.
Nach dieser eindeutigen Abweisung verschärfte sich die Situation gravierend: Alexander Fritsche meldete sich immer häufiger krank und blieb später sogar unentschuldigt seiner Arbeit fern. An diesen Tagen und an den Wochenenden verfolgte er Hanne wie ein Schatten. Johanna flüchtete zu einer Verwandten und suchte sich eine andere Wohnung. Aber auch dieser Unterschlupf blieb Fritsche nicht lange verborgen. Es folgten Telefonterror, tägliche Blumenpräsente, Nötigungen und dergleichen mehr.
Als Tannenberg Hanne eröffnete, dass Fritsche durch seinen Ausraster möglicherweise mit einer Haftstrafe zu rechnen habe, löste sich ihre Anspannung zusehends. Die Erleichterung darüber schlug sich nahezu augenblicklich in ihrem jugendlichen Gesicht nieder: Der Teint wurde rosiger, die kleinen Lachfältchen um den Mund herum zeigten sich, die Augen strahlten wieder und bewegten sich weitaus lebhafter.
Je länger Wolfram Tannenberg der redegewandten Historikerin zuhörte, umso sympathischer und attraktiver erschien sie ihm. Kein Wunder, dass sich dieser durchgeknallte Bänker total in sie verschossen hat. Eine richtige Klassefrau, dachte er mehrmals während dieser halben Stunde.
Wäre er nicht gestört worden, hätte er ihr ohne Mühe stundenlang zuhören können. Aber ein kräftiges Klopfgeräusch beendete abrupt Hannes Monolog.
»Ich kann nicht mehr länger warten«, platzte einer der beiden Hobbyhistoriker in Johanna von Hohenecks Büro. »Wo ist denn die Küchler-Chronik? Ich finde sie einfach nicht.«
Hanne blieb sachlich: »Wozu benötigen Sie denn die Chronik so dringend?«
»Ich möchte mich ausführlich über den ›Kroatensturm‹ informieren.«
»Ja, da haben Sie leider Pech, Herr Klemens. Die Chronik ist gerade beim Buchbinder.«
»Dann muss ich jetzt wohl auch noch in die Pfalzbibliothek gehen«, grummelte der untersetzte, glatzköpfige Mann. Mit unüberhörbar vorwurfsvollem Unterton versetzt, schob er nach: »Hoffentlich haben die wenigstens ein Exemplar vorrätig.«
»Wenn nicht, gibt’s ja noch die Fern-lei-he«, empfahl Hanne.
Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, ergänzte die Historikerin in einen Stoßseufzer hinein: »Manchmal sind diese Freizeitforscher ganz schön nervig, kann ich Ihnen sagen.« Sie zog eine Schreibtischschublade auf und zauberte schmunzelnd das gesuchte Buch hervor.
»Aha«, grinste Tannenberg, als er den Titel las.
Mit einem verstohlenen Blick zur Tür erklärte sie weiter: »Alle Welt will im Moment diese Chronik haben. Nur weil darin die schrecklichen Ereignisse von damals geschildert werden.« Sie hob den Zeigefinger. »Und zwar unter Bezugnahme auf die Original-Ratsprotokolle. Die benötige ich zur Zeit leider selbst. Ich verfasse gerade einen Artikel darüber für die Pfälzische
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