Jammerhalde: Tannenbergs siebter Fall
ein anderer Leuchtkörper auf.
Nun wusste Tannenberg auch endlich, wo sein aufdringlicher, hygienefeindlicher Toilettennachbar abgeblieben war. Dieser dampfplaudernde Selbstdarsteller, den er vorhin lediglich aus den Augenwinkeln heraus wahrgenommen hatte, hatte ihn sofort an irgendjemanden erinnert. Er hatte kurz darüber nachgedacht, aber es war ihm partout nicht eingefallen. Doch nun tauchte vor seinem geistigen Auge das passende Bild dazu auf: Dieser Mann erinnerte ihn an Marco Kern, den profilneurotischen Moderator der 10-Millionen-Euro-Show , die im letzten Herbst in der Fruchthalle gastiert hatte.
Der hat auch immer gemeint, dass überall, wo er auftaucht, sich sofort ein Spotlight auf ihn richten müsse, dachte Tannenberg kopfschüttelnd.
Der selbsternannte Aktionskünstler saß auf einer klotzigen Holzbank, die inmitten einer kahlen Lichtung positioniert war. Von Tannenbergs Standpunkt aus gesehen wurde der Autor linker Hand von zwei aus einem Baumstumpf herausgeschnitzten Wildschweinen beobachteten. Ein weiterer Punktstrahler wurde eingeschaltet und beleuchtete drei riesengroße Holz-Steinpilze, die circa zehn Meter rechts hinter der rustikalen Bank aus der Wiese wie Mahnmale herausragten. Diesen Anblick konnte Tannenberg nicht mehr ertragen. Das war nun eindeutig zu viel für ihn.
»Mir tut mein Rücken vom langen Stehen weh«, stöhnte er mit leidvoller Miene. »Ich muss mich dringend mal hinsetzen, Frau von Hoheneck.« Er wies hinüber zu einem Holzpavillon, in dem ein Biowinzer seine Produkte kredenzte. »Kommen Sie mit?«
»Nein, ich möchte mir erst noch die Lesung fertig anhören«, wisperte Hanne. »Gehen Sie schon mal vor, ich komme dann nach.«
Ihr Begleiter nickte und schlenderte hinüber zum Weinpavillon. Er bestellte sich einen Chardonnay. Sein Blick fiel hinüber zu einem grauen Holzschuppen, neben dem sich die Silhouette einer Holzrückmaschine abzeichnete. Etwas versetzt davor, und dadurch besser erkennbar, stand ein Werkzeugcontainer. Er ähnelte frappierend demjenigen, den die Waldarbeiter an der Jammerhalde benutzten.
Ob da auch Praxen drin lagern?, fragte er sich. Sollte ich mich eigentlich nicht mal bei meinen Kollegen erkundigen, wie die Ermittlungen laufen? Quatsch, die melden sich schon bei mir, wenn es etwas Neues gibt.
Reflexartig griff er an seine Hose, wo er sein Handy ertastete. Er zog es heraus und stellte lächelnd fest, dass es gar nicht eingeschaltet war. Das soll auch so bleiben, beschloss er grinsend und nahm einen tiefen Schluck Wein. Mit dem Glas in der Hand trottete er zu einer Holzbank, die unter einer haushohen Buche aufgestellt war. Von hier aus hatte man einen ungetrübten Blick auf das laut knackende, prasselnde Lagerfeuer. Es vergingen kaum mehr als ein paar Minuten, bis Hanne sich neben ihn setzte.
»Sie müssen es wohl vorausgeahnt haben, Herr Tannenberg«, meinte sie lächelnd: »Die ausgewählten Textpassagen dieses Wald- und Wiesenpoeten sind in literarischer Hinsicht mehr als enttäuschend. Regelrechtes Groschenroman-Niveau.« Sie seufzte. »Na ja, hoffentlich entspricht das Menü wenigstens den von unserem werten Herrn Intendanten geschürten Erwartungen.«
»Sind Sie jetzt enttäuscht?«
»Aber, nein doch!«, versetzte sie mit energischer Stimme. »Allein schon dieses Lagerfeuer war die Reise wert.« Sie schaute hinunter zum Saum ihres etwa zwei Handbreit über die Knie emporgerutschten Kleides. »Nur hab ich den Eindruck, dass mein Outfit nicht unbedingt diesem doch eher rustikalen Ambiente entspricht.« Sie lachte und gab dabei ihre strahlendweißen Zähne frei.
Verlegen wich Tannenberg ihrem Blick aus.
»Ja, ja, wir Menschen und die Magie des Feuers. Eine uralte Geschichte. Das war schon in der Steinzeit so. Und ist«, sie brach ab und bedachte ihn mit einem funkelnden Blick, »wie man an uns beiden sieht, auch heute noch so. Das steckt einfach ganz tief in uns drin. Haben Sie denn gewusst, dass sich unser genetisches Material von dem der Steinzeitmenschen noch nicht einmal um einen einzigen Prozentpunkt unterscheidet?«
Rainer würde jetzt garantiert behaupten, dass meine Gen-Ausstattung sogar hundertprozentig mit der unserer angeblich so primitiven Vorfahren übereinstimmt, ergänzte Tannenberg für sich.
»Wissen Sie was«, fuhr Johanna von Hoheneck fort, »ich besorg mir jetzt ebenfalls einen guten Wein und dann philosophieren wir beide munter weiter drauflos. Sollen die anderen sich ruhig diesen unfähigen Schmalspurpoeten
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