Jammerhalde: Tannenbergs siebter Fall
schockierende Erkenntnis behielt er jedoch besser für sich. Er entschuldigte sich bei Hanne und machte sich auf den Weg zur Toilette. Im Foyer des Gebäudes kippte er in einem wahren Sturztrunk gleich drei Gläser Sekt in sich hinein.
Gerade als er den Reißverschluss seiner Hose nach unten zog, gesellte sich ein kleinerer, stark nach billigem Rasierwasser riechender Mann zu ihm.
»Ich bin ja so aufgeregt«, plapperte dieser sogleich los. »Ich hab in fünf Minuten meinen nächsten Auftritt. Und das vor diesen vielen Leute. Die sind bestimmt megakritisch. Und ich muss jetzt vor ihnen lesen. Aus meinem Buchprojekt. Das ist doch mein erster Krimi-Event. Und dann auch noch diese aufwendige Performance. Da muss alles stimmen. Oh Gott, hoffentlich geht das gut. Bitte drücken Sie mir ganz fest die Daumen.«
Einen Teufel werde ich tun, du blöder Dampfplauderer!, schimpfte Tannenberg tonlos. Kupfert mir meinen ersten Fall ab und erwartet dann auch noch Unterstützung von mir. Gerade von mir. Das ist doch wohl die Höhe!
»Ich bin eigentlich von Haus aus Journalist«, nahm das unerwünschte Gequassel seinen Fortgang. »Aber ich hab leider noch keinen Job gefunden. Deswegen versuche ich mein Glück eben mal als Aktionskünstler. Eine Krimi-Performance im Wald, das ist doch die absolute Marktlücke im Kulturbereich. Was meinen Sie?«
Tannenberg räusperte sich. »Kann schon sein«, brummelte er. Solch eine affige Lachnummer soll Kunst sein?, ergänzte er in Gedanken. Um Himmels willen, wo hat sich unser ehemaliges Land der Dichter und Denker inzwischen bloß hinentwickelt?
»Das, was ich eben erlebt habe, muss ich unbedingt verarbeiten«, sagte der Künstler. Damit wollte er anscheinend eine interessierte Nachfrage provozieren. Da Tannenberg jedoch eisern schwieg, schob er nach: »Ein Waldarbeiter hat mir gerade den perfekten Mord präsentiert: Sie haben doch auch schon im Wald diese vom Sturm umgeworfenen Bäume gesehen. Die mitsamt ihren Wurzeln aus der Erde herausgerissen wurden. Wenn man nun eine Leiche unter solch einen Baumteller legt und dann den Stamm abschneidet.« Er versetzte seinem Nebenmann einen leichten Schubs mit der Schulter. »Na, was passiert dann? Ganz einfach: Der Baumteller richtet sich wieder auf und die darunter begrabene Leiche bleibt für immer verschwunden. Einfach genial, oder?«
Der Kriminalbeamte lupfte kommentarlos die Schultern. Im Stillen formulierte er eine interessante Frage: Wie viele Mordopfer liegen wohl unter pfälzischen Baumtellern vergraben?
»Was sind Sie denn von Beruf?«
Diese Frage kam so unvermittelt, dass Tannenberg sich an seiner eigenen Spucke verschluckte. Er wurde von einem regelrechten Erstickungsanfall heimgesucht, Tränen schossen ihm in die Augen. Er stürmte zum Waschbecken, trank hastig ein paar Schlucke Wasser. Nachdem sich seine Atmung wieder einigermaßen normalisiert hatte, blickte er sich suchend um. Aber der hektische Aktionskünstler war verschwunden.
So sind diese modernen Kulturträger, dachte er bei sich: Angeblich geniale Kunst schaffen, aber noch nicht mal nach dem Pinkeln die Hände waschen!
Der Alkoholkonsum zeigte zwar bereits ein wenig Wirkung, aber die Narkosedosis reichte bei weitem noch nicht aus, um diesen Horrortrip ertragen zu können, fand Tannenberg. Deshalb leerte er im Vorraum zwei weitere Sektkelche. Dabei stieß er auf einen Büchertisch, auf dem die Werke regionaler Krimiautoren feilgeboten wurden. Er bedachte die Auslage lediglich mit einem verächtlichen Blick.
»Unfähiges Schreiberpack!«, zischte er im Vorübergehen den wehrlosen Büchern entgegen. »Diese Typen können weder schreiben, noch haben sie auch nur den blassesten Schimmer von unserer Berufspraxis.«
Als er hinaus ins Freie trat, stand er plötzlich vor einer aus einem Baumstamm geschnitzten, furchterregenden Holzskulptur: einem mannshohen Waldschrat mit überdimensioniertem Kopf. Er riss seinen Blick davon los und schaute in Richtung des Lagerfeuers. Als er Hanne entdeckte, wurde ihm gleich wieder wohlig warm ums Herz und sein Pulsschlag beschleunigte sich.
Während die Umgebung nun mit der bekannten Kriminaltango-Melodie beschallt wurde, lag der angebliche weibliche Leichnam immer noch an derselben Stelle im gleißenden Scheinwerferlicht, umringt von neugierigen Eventgästen.
Nachdem der Kriminaltango verklungen war, durchschnitt ein gellender Schrei die kurzzeitig eingekehrte Stille. Das Bühnenlicht erlosch. Dafür flammte etwa fünfzig Meter rechts davon
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