Jammerhalde: Tannenbergs siebter Fall
die Glocken- und die Kerststraße und kreuzte am ehemaligen ›Flohkino‹ die Alleestraße. Gleich nach deren Überquerung blieb er stehen und schaute sich suchend um.
Vorhin, als er ausführlich die E-Mail beantwortet hatte, war plötzlich eine Inspiration in seinem Gehirn aufgetaucht, die er nun in der Realität überprüfen wollte. Er hatte sich nämlich daran erinnert, dass er irgendwo etwas über einen Messingdeckel gelesen hatte, der in der Nähe dieser Kreuzung in die Verbundsteinpflaster eingelassen sein sollte. Bislang hatte er noch nie darauf geachtet.
Ziemlich schnell hatte er den Messingteller entdeckt, der in unmittelbarer Nähe der Einmündung zum Grünen Graben ein weitgehend unbeachtetes Dasein fristete. Er wies einen Durchmesser von etwa einem Meter auf und zeigte einen reliefartigen Grundriss der Stadt im 17. Jahrhundert, also genau zu der Zeit, als sich Augustinus Tannenberg dort angesiedelt hatte.
Exakt an der Stelle, an der Jacob gerade stand, hatte sich damals offensichtlich das Kersttor befunden. Beim sogenannten ›Kroatensturm‹ waren zweihundert Bürger durch dieses südliche Ausfalltor der Stadtmauer vor den marodierenden Mörderbanden in die Wälder geflüchtet, wo sie später an der Jammerhalde niedergemetzelt wurden. Als er an diese Greueltaten dachte, kochte die Wut in ihm hoch. Mit grimmigem Mienenspiel verließ er diesen geschichtsträchtigen Ort und setzte seinen Weg in das Zentrum der Innenstadt fort.
Im ›Tchibo‹ in der Fackelstraße wurde er bereits erwartet.
Nach einem demonstrativen Blick auf ihre Armbanduhren – sie zeigten zwei Minuten nach 16 Uhr – musste sich Jacob provokante Bemerkungen gefallen lassen. Zur Strafe für sein verspätetes Erscheinen löcherten ihn die Rentner mit denselben bohrenden Fragen, die sie ihm am Morgen schon einmal gestellt hatten: »Stimmt das, was in der Bildzeitung steht?« – »Hat dir dein Sohn etwas Neues erzählt?«
Da Jacob nicht mit brandheißen Informationen aufwarten konnte, warf abwechselnd ein anderer seinen Hut in den Ring der wilden Spekulationen. Die orakelhaften Vermutungen über den mutmaßlichen Täterkreis reichten dabei vom internationalen Waffen-, Menschen- oder Drogenhandel über eine Geheimbund-Verschwörungstheorie bis hin zur Hypothese einer genialen Ablenkungsstrategie, deren einflussreiche Drahtzieher in Politik und Wirtschaft zu suchen seien. In diesem bunten Kaleidoskop durften natürlich weder Geheimdienste, religiöse Fundamentalisten, militante Umwelt- und Tierschützer noch psychopathische Einzeltäter fehlen.
Nach Erledigung der Einkäufe kehrte der Senior der Familie Tannenberg zu seinem Haus im Musikerviertel zurück. Da die Hohenecker Burg dringend einen neuen Farbanstrich benötigte, verzog er sich gleich nach dem Abendessen noch einmal in den angenehm temperierten Keller und werkelte an seiner Modelleisenbahnanlage herum.
Doch rechtzeitig zu den Abendnachrichten fand er sich wieder in der Parterrewohnung ein, wo er umgehend seinen Platz auf seiner Wohnzimmercouch besetzte. Auch bezüglich dieses Rituals war er zu keinerlei Kompromissen bereit, weder im Hinblick auf das Fernsehprogramm noch auf die von ihm festgelegte Sitzordnung. Wem das nicht passte, der hatte eben Pech gehabt!
Das Highlight des Tages ließ auch nicht mehr lange auf sich warten. Pünktlich um 19 Uhr 45 ertönte auf Bayern Alpha die Erkennungsmelodie der Tagesschau, allerdings der vor 25 Jahren schon einmal tagesaktuell ausgestrahlten. Jeden Abend freute er sich auf diese virtuelle Zeitreise wie ein Süchtiger auf seine Drogenration.
Für ihn als leidenschaftlicher Hobbyhistoriker bedeutete diese Nachrichtensendung Geschichtsunterricht pur. Er wunderte sich immer wieder darüber, was er in der Zwischenzeit alles vergessen hatte. Aber das eigentliche Faszinosum stellte etwas ganz anderes dar: Es war die historische Tatsache, dass die Welt vor einem Vierteljahrhundert noch ganz anders ausgesehen hatte als heute. Und zwar weitgehend so, wie Jacob sie sich liebend gerne wieder herbeigezaubert hätte: Da gab es noch richtig kernige Politiker, da gab es noch die D-Mark, da gab es noch die Mauer und die DDR. Dafür gab es glücklicherweise noch keine Privatsender, noch keine Handys – und da kostete die Tasse Kaffee bei ›Tchibo‹ noch 50 Pfennige.
Auf zwei technologische Errungenschaften wollte er bei einer Rückkehr in die nach seiner Ansicht traumhaften Zustände der Vergangenheit jedoch garantiert nicht verzichten: auf
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