Jammerhalde: Tannenbergs siebter Fall
wirklich um Leben oder Tod.«
»Okay, okay«, gab sich Tannenberg geschlagen. »Raus, sofort raus!«, wiederholte er in barschem Ton die Worte der Krankenschwester, schließlich trüge er nur ein Leibchen am Körper.
Kaum eine Minute später scharten sich im Büro des Stationsarztes all diejenigen Personen dicht um einen alten Röhrenmonitor, die sich kurz zuvor noch in Tannenbergs Krankenzimmer aufgehalten hatten. Jacob hatte auf dem Drehstuhl des Arztes Platz genommen, unmittelbar hinter ihm stand sein mit einem hellblauen Bademantel bekleideter Sohn. Der Senior wiederholte seine Suchmaschinen-Eingabe, klickte aber diesmal direkt auf diejenige Seite, die er zu Hause als letzte aufgerufen hatte.
»Und deswegen machst du solch einen Aufstand, Vater?«, erheiterte sich sein Sohn, als er eine Webseite betrachtete, die er im Hause seines Bruders schon oft gesehen hatte. Und zwar am PC seines Neffen. Er legte Jacob von hinten eine Hand auf die Schulter. »Das ist doch nur ein Spiel. Von diesen Mittelalter-Rollenspielen gibt es unzählige. Dein eigener Enkel ist ein begeisterter Fan davon.« Er rollte die Augen, während er tief seufzte.
»Als ob ich das nicht selbst wüsste«, knurrte Jacob und wischte Tannenbergs Hand von seiner Schulter. »Aber, wo ist das denn bloß hingekommen?«, versetzte er mit bebender Stimme.
»Was denn?«
»Das, was da einer vorhin reingeschrieben hat.«
»Vielleicht waren Sie ja in einem Chatroom«, bemerkte der junge Stationsarzt. »Diese Dialoginhalte werden nicht gespeichert.«
»Oder in einem Forum«, meinte der Kriminaltechniker. »Dort allerdings werden die Einträge gespeichert. Gehen Sie mal oben auf ›Archiv‹ und blättern Sie zurück.«
Jacob tat, wie ihm geheißen. »Da ist es!«, schrie er nur wenig später. Alle Augen bohrten sich in die gewölbte Glasplatte hinein.
Unsere Mission ist in vollem Gange. Wir haben schon mehrere Male zugeschlagen. Jedes Mal mit einem anderen Kämpfer, jedes Mal mit einer anderen Waffe. Wir sind wie eine Muräne. Wir halten uns lange Zeit versteckt. Doch dann schlagen wir zu und verschwinden wieder in der Höhle unserer bürgerlichen Existenz. Unsere weitverzweigte Geheimorganisation hat bereits einige ausgewählte Nachkommen von Kriegsverbrechern aufgespürt und sie ihrer gerechten Strafe zugeführt. Diese brutalen Massenmörder waren bislang nicht zur Verantwortung gezogen worden, nun wurden sie es. Wir haben damit im Prinzip nichts anderes getan, als das, was das Haager Kriegsverbrechertribunal auch tut. Mit dem kleinen Unterschied, dass wir nicht an irgendwelche weltlichen Gesetze gebunden sind. Unser Handeln orientiert sich einzig und allein an einem uralten moralischen Gesetz: ›Auge um Auge, Zahn um Zahn‹. ›Die Rache ist mein, ich will vergelten zur Zeit‹ – sprach der HERR!.
Tannenberg entfernte den Blick vom Monitorbild. Seine Augen brannten, der Kopf schmerzte. Er schaute aus dem Fenster. Draußen begann es bereits zu dämmern. »Das ist doch alles nur leeres Geschwätz. Wahrscheinlich gehört das zu diesen Rollenspielen dazu. Da hat bestimmt einer den Auftrag erhalten, einen Rächer zu mimen.«
Jacob hatte inzwischen eine weitere Textstelle aufgespürt.
»Von wegen«, versetzte Dr. Schönthaler und deutete auf den Bildschirm. »Lies doch selbst!«
Für jeden Toten haben wir auf einem Grabstein eine weiße Lilie abgelegt. Es werden noch viele hinzukommen, ein ganzer Strauß wird es werden. Schon bald wird einer unserer Kämpfer an derselben Stelle eine weitere Lilie ablegen.
Als er die Signatur las, mit der dieser unbekannte Autor seinen Forumsbeitrag unterzeichnet hatte, schien sein Herz stehenzubleiben. Er schwankte, suchte Halt am Arm des Rechtsmediziners. Johanna, Mission 370 , stand da weiß auf schwarzem Hintergrund geschrieben.
Er riss seinen Körper herum, suchte Hanne.
Doch Johanna von Hoheneck war spurlos verschwunden.
12
Dr. Schönthaler erfasste umgehend die Dramatik dieser Situation. »Wolf, aus medizinischer Sicht brauchst du jetzt dringend eine kleine Pause«, entschied er. »Mit einer schweren Gehirnerschütterung ist nicht zu spaßen.«
»Wir müssen aber doch so schnell wie möglich zur Jammerhalde fahren«, stieß der Kriminalbeamte keuchend aus, »und nachschauen, ob dort wirklich schon wieder ein Toter liegt.«
»Nichts da, du bleibst hier und tust, was meine Kollegen dir verordnen. Du bist nämlich krankgeschrieben – und damit erstmal weg vom Fenster«, belehrte
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