Jan Fabel 01 - Blutadler
Fensters und schob sich darauf zu. Dadurch, dass er sich hin und wieder seitwärts bewegte, konnte er die Position der Pfeiler ermitteln. Immer wenn er einen erreicht hatte, tastete er ihn mit der freien Hand nach einem Lichtschalter ab.
Dann hörte er es wieder. Ein Stöhnen. Oder eine gedämpfte Stimme. »Witrenko?«, rief er erneut, diesmal mit einem schwankenden Tonfall, als wisse er nicht, welcher Witrenko, Vater oder Sohn, ihm antworten werde. Nun hörte er einen leisen, erstickten Schrei wie von einer geknebelten Person. Fabels Kopf schoss in Richtung des Geräusches herum. Er lauschte, doch die Stille des Lagerhauses füllte sich bereits mit dem dampfhammerartigen Dröhnen seines eigenen Pulses. Er packte die Walther mit festerem Griff und merkte, dass seine Handflächen - genau wie sein Gesicht - von Schweiß bedeckt waren.
Er hatte sich nun fast bis zu der Bürokabine vorgeschoben. Fabel vermutete, dass sich die Stufen unmittelbar vor ihm befanden. Er hatte einen weiteren Pfeiler erreicht und legte seine freie Hand an den Stein. Der Wulst eines Kabelrohrs lief senkrecht an der Säule hinab. Rasch folgte seine Hand dem Kabel nach unten, bis sie auf den quadratischen Schalterkasten stieß. Fabel atmete langsam und leise durch, wich zurück und streckte den linken Arm aus, sodass seine Finger auf dem Schalter ruhten. Wieder lockerte und straffte er die andere Hand um seine Pistole.
Bereit, sofort zu feuern, drückte Fabel auf den Schalter. Ungefähr ein Dutzend Leuchtröhren in der Mitte des Lagerhauses erwachten widerwillig flackernd zum Leben und enthüllten ein Bild aus der Hölle. Die Frau mit den goldenen Haaren, die so jugendfrisch und energiegeladen gewirkt hatte, klebte tot an der Seite des Containers. Ihr nackter, hingemetzelter Körper, die Lungen aus der Brusthöhle gerissen, war genau wie die Opfer auf den zwei Jahrzehnte zuvor in einem fernen Land aufgenommenen Fotos an die Wand genagelt worden. Ihr Blut und ihre Eingeweide glänzten wie feuchte Farbe an der erhöhten Bürokabine. Mit dem Leben hatte die Frau auch ihre Menschlichkeit verloren. Fabel bemühte sich, die Person zu sehen, die sie einst gewesen war, doch er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, den deformierten Kadaver eines grotesken Vogels mit einem Frauenkopf vor sich zu haben. Der Gedanke widerte ihn an, denn das war genau der Eindruck, den der Mörder hatte erwecken wollen. Fabel rang nach Atem, taumelte zurück und stieß an einen Pfeiler. Es gelang ihm nicht, die Augen von dem Bild des Entsetzens loszureißen.
Wieder hörte er ein leises Stöhnen. Wie ein plötzlich erwachter Schlafwandler wirbelte er mit erhobener Pistole in Richtung des Geräusches herum. Der alte Ukrainer stand aufrecht an dem Pfeiler gegenüber dem Grauen an der Containerwand. Man hatte ihn straff mit Draht gefesselt. Eine Schlaufe war über seinem Kopf angebracht und dann unter seinem Kiefer hindurchgezogen worden. Der Draht schnitt tief in das Fleisch des alten Mannes ein, und die Vorderseite seines Hemdes war mit seinem schwarzroten Blut durchtränkt. Jemand hatte ihm den Mund mit einem breiten Klebeband versiegelt. Seine Augen starrten wild vor sich hin. Die Erkenntnis traf Fabel wie ein Schlag in den Magen: Witrenko hatte seinen Vater gezwungen zuzusehen. Er hatte seine Schreckenstat wiederholt und den armen Kerl zum Zeugen gemacht, als er die noch atmenden Lungenflügel aus dem Körper des Mädchens riss. Fabel sprang zu dem Pfeiler hin und legte die Hände zu beiden Seiten neben den Kopf des alten Mannes. Die fast wahnsinnigen grünen Augen richteten sich auf den Polizisten. Der Ukrainer versuchte, etwas zu sagen.
»Gleich ... gleich.« Fabel untersuchte hastig die straffen Drahtfesseln, aber er wusste nicht, wo er anfangen konnte, den Slawen zu befreien. »Ich mach Sie gleich los ...« Der Ukrainer schüttelte den Kopf, sodass sich der Draht noch tiefer in sein Fleisch eingrub. Etwas wie ein Schrei war hinter dem Klebeband zu hören. Fabel schrak zurück.
»Um Gottes willen, bewegen Sie sich nicht.« Er steckte die Pistole ins Halfter und begann, das Klebeband vom Mund zu lösen. Wieder reagierte der Ukrainer ungestüm und ließ seinen Kopf zur Seite und nach unten rucken. Fabel folgte dem Hinweis der grünen Augen.
Dann sah er es. Neben den Füßen des alten Mannes war eine große, dicke Metallscheibe, die Fabel als Panzerabwehrmine erkannte, an dem Pfeiler befestigt worden. An der Mine haftete eine faustgroße schwarze Box mit
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