Jan Fabel 01 - Blutadler
haben.«
Wolfgang Eitels Gesicht erhellte sich vor gehässiger Freude. Fabel schien die Tür schließen zu wollen, blieb dann aber stehen und beugte sich wieder vor, als sei ihm noch eine Kleinigkeit eingefallen.
»Ach ja, Ihr Sohn Norbert ist wegen des dringenden Tatverdachts der Vergewaltigung, Freiheitsberaubung, schweren Körperverletzung und fahrlässigen Tötung und Verdachts der Mordbeihilfe verhaftet worden.«
Er schloss die Tür, und sein Lächeln kehrte zurück, als er die Stimmenexplosion im Vernehmungszimmer hörte. Als er die Hälfte des Korridors hinter sich gebracht hatte, kam Paul Lindemann auf ihn zugerannt. »Chef, Werner hat gerade angerufen. Du musst nach Harburg fahren. Er hat Hansi Kraus gefunden. Tot.«
Hamburg-Harburg,
Samstag, den 21. Juni, 15.30 Uhr
In seinen zwanzig Jahren als Polizist, überwiegend bei der Mordkommission, hatte Fabel Dutzende von Mordschauplätzen aufgesucht. Er hatte sich nie an den Tod gewöhnen können. Jede neue Szene hinterließ tief in seinem Innern eine weitere Narbe. Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen hatte er es nie geschafft, Leben und Tod, Geist und Fleisch voneinander zu trennen.
Der Tod ist erfinderisch in der Vielfalt seiner Gestalten. Jede ist auf ihre eigene Art unerfreulich, und Fabel hatte die meisten kennen gelernt. Es gab das Furchtbare: die nach einem Monat aus der Elbe gefischte, halb zerfressene Leiche, oder die blutigen Bilder, die der jetzige Mörder erzeugte. Es gab das Bizarre: die außer Kontrolle geratenen Sexspiele oder die ungewöhnliche Wahl der Mordwaffe. Es gab das Surreale: etwa den Drogenhändler, dem man beim Essen an seinem Küchentisch eine Kugel in den Hinterkopf geschossen hatte und der, die Gabel immer noch in der auf dem Tisch ruhenden Hand, aufrecht sitzen geblieben war, als mache er eine Pause zwischen den Bissen, nachdem Knochenfragmente, Gehirnfetzen und Blut den vor ihm stehenden Teller bespritzt hatten. Und es gab das Erbarmungswürdige: die Opfer, die sich bei dem verzweifelten Versuch, dem unvermeidlichen Tod zu entgehen, hinter einen Vorhang oder unter ihr Bett geflüchtet und den Körper zu einer fötalen Position zusammengerollt hatten.
Hansi Kraus' Ableben lag zwischen dem Erbarmungswürdigen und dem Elenden. Das kleine, schmutzige Zimmer, in dem er sich von der Welt verabschiedet hatte, hätte nicht abstoßender sein können. Die Farbe, die Wände, sämtliche Oberflächen, sogar die einzelne nackte Glühbirne, die desolat von der Decke hing, waren mit einem schmierigen Schmutzfilm überzogen. Obwohl Werner das einzige Fenster weit geöffnet hatte, hing ein schaler Geruch wie ein böser, der Austreibung trotzender Geist in der Luft.
Hansi, der nun nicht mehr frieren oder schwitzen konnte, lag mit seinem schweren Armeemantel über den Beinen da. Seine Augen waren geöffnet - eingesunkene Kugeln in den Höhlen seines totenschädelähnlichen Gesichts. Der linke Ärmel eines Hemdes, das einmal ein Muster gehabt haben mochte, war halb über Hansis kümmerlichen Bizeps hochgeschoben worden. Eine Abschnürbinde aus Gummi war immer noch locker oberhalb des Ellbogengelenks um den Arm gewickelt, und der Unterarm wies einen frischen Stich auf, gerade noch zu erkennen zwischen den Spuren einer zehnjährigen Reise durch die schwere Sucht. Eine Spritze lag leer im schlaffen Griff von Hansis rechter Hand.
Kein schlechter Versuch, dachte Fabel. Er musterte die klägliche Szene. Wirklich kein schlechter Versuch. Es war ein Mord, den man als Drogentod getarnt hatte. Ein nicht überraschender Tod wie dieser wurde von der Polizei kaum weiter beachtet: Einem weiteren Junkie war es endlich gelungen, sich tödlich zu vergiften. Aber dieser Junkie hatte eine Geschichte zu erzählen gehabt und war vorher von jemandem zum Schweigen gebracht worden.
»Hast du die Kollegen vor Ort schon informiert?«
Werner schüttelte den Kopf. »Ich wollte, dass du es vorher siehst. Sehr passend, nicht wahr?«
»Ja, was für ein Zufall. Ich möchte, dass Holger Brauners Team hier seine Arbeit macht. Unterrichte die Polizeidirektion Süd und lass sie wissen, dass wir von einem Mord ausgehen, womit die Mordkommission zuständig ist.« Fabel blickte auf Hansi hinunter. Wieder sah er jenseits der Leiche und dem Junkie den Sohn verzweifelter Eltern, einen Menschen, der einmal Träume und Hoffnungen gehegt und irgendeine Art von Ehrgeiz besessen haben musste. »Hast du nicht gesagt, dass Hansi im Präsidium plötzlich nervös geworden
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