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Jan Fabel 01 - Blutadler

Titel: Jan Fabel 01 - Blutadler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Russell
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flach, als hätte die Natur sie gebügelt und jede Beule und jede Falte geglättet. Doch die dichten Baumgruppen, die Kirchen mit den roten Dächern, die niederländisch anmutenden Windmühlen sowie die sorgfältig restaurierten Fachwerkhäuser mit den freiliegenden Balken und den gepflegten Strohdächern ließen keine Monotonie aufkommen. Die grüne Fläche war von einem Netz aus Deichen und Kanälen durchzogen, das an eine Flickarbeit erinnerte.
    Während er sich Neuengamme näherte, spürte er das leise Flattern einer trüben, unklaren Besorgnis. Diese Gegend hatte für Fabel eine reiche Vorgeschichte. Hier trafen für ihn so viele gute und schlechte Dinge zusammen. Alle möglichen Einzelheiten verschmolzen für ihn in dieser unauffälligen Biegung der Elbe: persönliche, berufliche, politische.
    Wie alle deutschen Kinder seiner Generation hatte Fabel mit ungefähr zehn Jahren die Last der Geschichte seines Landes schultern müssen. Es war ein Verlust der Unschuld und ein Sich-Abfinden mit der Situation gewesen. Er hatte seinen Vater nach den Dingen gefragt, die ihm zu Ohren gekommen waren: über Deutschland und über die Menschen, besonders die Juden. Fabel erinnerte sich an den Kummer in den Augen seines Vaters, als der sich abmühte, einem zehnjährigen Jungen die Ungeheuerlichkeit dessen, was im Namen Deutschlands begangen worden war, zu erklären. Kurz darauf hatten sein Vater und er die lange Reise hierher angetreten. In diese Gegend mit ihren hübschen, halb aus Holz bestehenden Häusern und ihrer sanften Landschaft. Nach Neuengamme.
    Mehr als 55000 Häftlinge hatten sich hier in einem Lager, das in einer stillgelegten Ziegelfabrik eingerichtet worden war, zu Tode schuften müssen. Die Briten hatten es ebenso wie Bergen-Belsen befreit und es dem deutschen Volk 1948 mit typisch angelsächsischem Pragmatismus zurückgegeben. Sie hatten vorgeschlagen, es zu einem Gefängnis zu machen, und genau das war geschehen. Bis 1989 hatten sich eine KZ-Gedenkstätte und die Vollzugsanstalt Vierlande das Gelände geteilt. Schließlich hatte der Hamburger Senat eingesehen, wie unpassend es war, Menschen weiterhin an einem Ort einzusperren, an dem im Namen des Staates derartige Gräueltaten begangen worden waren, und man hatte das Gefängnis aus dem früheren KZ ausgelagert.
    Und nun war Fabel nach Vierlande gekommen, um sich zum ersten Mal seit über einem Jahrzehnt einem Teil seiner persönlichen Geschichte zu stellen, den er für längst vergangen gehalten hatte.
    Der Gefängnisbeamte führte Fabel in Dorns Arbeitszimmer. Es war ein heller, luftiger Raum mit großen, bunten Plakaten von deutschen historischen Wahrzeichen an den Wänden: dem Holstentor von Lübeck, der Porta Nigra von Trier, dem Kölner Dom. Die übrigen Teile der Wände waren mit Bücherregalen bedeckt, und Fabel fand, dass der Raum noch stärker an eine Schulbibliothek erinnerte als Dorns altes Büro in der Universität Hamburg.     
    Als Fabel eintrat, waren Dorn und ein jüngerer Mann über ein Nachschlagewerk gebeugt. Der Jüngere überragte Dorn, und sein T-Shirt ließ äußerst muskulöse und tätowierte Arme erkennen. Sein brutales Äußeres passte nicht zu der Konzentration, mit der er sich dem Text widmete. Dorn schaute auf, bemerkte Fabel und entschuldigte sich bei dem gelehrten Muskelprotz, der mit dem Band und seinem Notizheft unter dem Arm hinausging.
    »Jan ...« Dorn streckte eine Hand aus. »Ich freue mich, dass Sie kommen konnten. Bitte, nehmen Sie Platz.«
    Die Zeit hatte den gestutzten Schnurr- und Spitzbart mit mehr Weiß gesprenkelt und tiefere Furchen um seine Augen gegraben, doch sonst unterschied sich Matthias Dorn kaum von dem Mann, den Fabel als seinen Professor für Europäische Geschichte im Gedächtnis hatte: ein kleiner, ordentlicher, kompakter Gelehrter mit blauen Augen und etwas zu geschliffenen Zügen.
    Fabel schüttelte die zerbrechliche Hand. »Schön, Sie wieder zu sehen, Herr Professor«, log er. Für Fabel gehörten Dorn und die Gefühle, die er wieder in ihm wachrief, in die Vergangenheit. Und er wünschte, sie wären dort geblieben! Fabel nahm Dorn gegenüber am Schreibtisch Platz. Auf dem Tisch stand das Foto einer jungen Frau von rund zwanzig Jahren. Sie hatte ein porzellanhaft zartes Gesicht. Fabel wurde unwillkürlich von dem Bild angezogen und wunderte sich darüber, wie wenig vertraut ihm das Gesicht vorkam. »Es überrascht mich, Sie hier vorzufinden«, sagte er.
    »Nur zwei Tage pro Woche.« Dorn

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