Jan Fabel 01 - Blutadler
auf ihn abgesehen. Er wusste nicht, was gegen ihn vorlag, aber dies war nicht der geeignete Zeitpunkt, sich zu längeren Verhören ins Präsidium schleppen zu lassen. Er war der Lösung zu nahe. Es hatte ihn zu viel an Zeit, Mühe und üblen Lebensbedingungen gekostet, um sich nun in letzter Minute aus dem Verkehr ziehen zu lassen.
Er rannte durchs Zimmer, griff nach seiner Jacke und schob die Pistole in die Tasche. Dann schloss er die Tür rasch hinter sich, ohne sie zuschlagen zu lassen, und sprang jeweils zwei Stufen die Treppe hinauf. Der Hauswirt hatte in alle Wohnungen den gleichen Türtyp einbauen lassen. Zur Sicherung diente die Haustür auf die Straße hinaus, während die einzelnen Wohnungstüren kaum mehr als Ein- und Ausgänge waren. Er öffnete sein Taschenmesser, presste die Schneide seitlich ans Schloss der oberen Wohnung und drückte das Messer kräftig mit der Schulter weg. Man musste exakt vorgehen und genau das richtige Maß an Kraft einsetzen, um die Tür zu öffnen, ohne das dünne Holz splittern zu lassen.
Er hörte das schwirrende Quietschen des Haustürscharniers im Erdgeschoss. Sonja war eingetreten, und sie konnten nur ein paar Schritte hinter ihr sein. Das Schloss gab nach, er stürzte halb in die Wohnung und zog die Tür hinter sich zu. Dann hörte er Sonjas Schrei, Fabels Rufe und die Geräusche von Bewegungen und Stimmen aus seiner Wohnung. Er kniff die Augen zu, lehnte sich mit dem Hinterkopf an die Tür und flüsterte das Wort »Scheiße«. Sein Handy. Er hatte sein Handy liegen lassen. Und damit seine Rettungsleine. Er musste sich schnellstens ein neues Telefon verschaffen.
Aber erst einmal konnte er nur abwarten.
Der Mieter dieser Wohnung war ein Jugoslawe von etwa sechzig Jahren. Klugmann hatte ihn zunächst für einen illegalen Einwanderer gehalten, dann jedoch herausgefunden, dass er drüben im Sternschanzenpark als Gärtner für die Stadt arbeitete. Mit anderen Worten, er pflegte die Blumenbeete und sammelte gebrauchte Spritzen auf. Der Jugoslawe hatte eine regelmäßige Tagschicht, die um elf Uhr begann. Er würde erst nach zwanzig Uhr zurückkehren. Bis dahin hatte Klugmann Zeit, sich aus dem Staub zu machen.
Nun würde ständig ein Polizist auf der Straße Wache halten. Das erschwerte seine Flucht. Sein Hauptvorteil bestand darin, dass man dachte, er habe das Gebäude bereits verlassen. Also würde man nach einer zurückkommenden, nicht nach einer hinausgehenden Person Ausschau halten. Er setzte sich mit dem Rücken an die Tür und musterte das Zimmer. Vielleicht gab es hier etwas, das er anziehen konnte, um älter auszusehen. Der Plattfuß auf der Straße würde die Verbindung vermutlich nicht herstellen, weil er sich auf einen jungen hereinkommenden, nicht auf einen alten hinausgehenden Mann konzentrierte. Im Flur erklangen Stimmen: Fabel stauchte das Observationsteam zusammen, weil es ihn aus den Augen verloren hatte. Klugmann erlaubte sich ein Lächeln. Er hörte Schritte und presste sich an die Tür. Das Klopfen einer geballten Polizistenfaust. Klugmann atmete langsam und gleichmäßig. Ein weiteres Klopfen.
»Polizei. Ist jemand zu Hause?«
Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bevor er Schuhe über den Treppenabsatz schlurfen und dann hallend die Steinstufen hinabsteigen hörte. Unten wurde ebenfalls an die Tür geklopft. Klugmann wusste, dass auch diese Wohnung zurzeit leer war. Eine Frau sagte: »So ein Mist«, und dann knarrte das Scharnier der Haustür. Zwei draußen, Fabel und Meyer oben. Er ließ den Blick erneut durch die Wohnung schweifen, um eine Tarnung zu finden. Dann wartete er.
Vierlande bei Hamburg,
Donnerstag, den 5. Juni, 14.45 Uhr
In der Stadt hatte dichter Verkehr geherrscht, und Fabel war froh, dass er zusätzliche Zeit veranschlagt hatte, um die B5 durch das Zentrum und in Richtung Billbrook hinter sich zu bringen. Nun klebte die Stadt nicht mehr am Straßenrand, und die Landschaft glich dem flachen, glatten Tuch eines Billardtisches. Fabel hatte Maria Klee Klugmanns Handy übergeben. Sie würde es an die Kriminaltechnik weiterleiten, um so viele Details wie möglich ermitteln zu lassen. Anna Wolf und Paul Lindemann klopften wahrscheinlich noch an Türen, um Klugmanns kalte Fährte wieder aufzunehmen. Beide waren fähige Beamte. Klugmann musste einen besonderen Trick angewandt haben, um sie hereinzulegen.
Kurz nach Bergedorf bog Fabel südlich in Richtung Neuengamme ab. Er hätte in Holland sein können, denn die Landschaft war so
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